Diabetologie und Stoffwechsel 2014; 9(6): 387-388
DOI: 10.1055/s-0034-1397456
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Referat – Individualisierung geht über den HbA1c-Zielwert hinaus

Andrea Icks
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Publication Date:
29 December 2014 (online)

Hintergrund: Zwar verzögert ein niedrigerer HbA1c-Wert den Beginn und die Progression mikrovaskulärer Komplikationen. Doch bis sich dieser protektive Effekt klinisch auswirkt, als geringeres Risiko für Erblindung, Nierenversagen oder Amputationen, kann es 20 Jahre dauern. Therapiebedingte Beeinträchtigungen wie Gewichtszunahme, gastrointestinale oder auch subjektive Beschwerden hingegen können sofort einsetzen und dauerhaft bestehen bleiben, die Lebensqualität deutlich mindern. S. Vijan et al. schätzten anhand eines Modells ab, wie sehr die therapiebedingte Belastung den Nutzen einer intensiven vs. moderaten Blutzuckereinstellung beschränkt.

Methoden: Die Forscher überarbeiteten ein bereits publiziertes Markov-Modell für Diabetes-Folgeschäden. Sie schätzen damit ab, wie sich ein reduzierter HbA1c-Wert einerseits auf die Entwicklung und Progression mikrovaskulärer und kardiovaskulärer Diabeteskomplikationen auswirkt, andererseits auf die Gesamtzahl qualitätsadjustierter Lebensjahre (QALYs). Für die geschätzten Progressionsraten im Modell zogen die Forscher Daten aus randomisierten Untersuchungen und Observationsstudien heran. Sie gingen davon aus, dass das Risiko einer koronaren Herzerkrankung um 15 % sinkt, wenn der HbA1c-Wert um einen Prozentpunkt reduziert wird. Um zu beurteilen, wie Krankheitskomplikationen und therapiebedingten Belastungen die Lebensqualität beeinflussen, führten die Forscher Nutzwertanalysen durch. Hierbei steht der Wert 1 für völlige Gesundheit, der Wert 0 für den Tod; jeder Komplikation wird eine Schadensgröße zugewiesen: So reduziert die Insulintherapie die Lebensqualität verglichen mit völliger Gesundheit um 5 % (0,05), was dem Verlust von jährlich 18,2 Tagen mit hoher Lebensqualität entspricht.

Ergebnisse: Ein Patient, der die Diagnose Typ-2-Diabetes im Alter von 45 Jahren erhält, durch eine Metformin-Therapie wenig belastet ist (Schadensgröße 0,001; 0,4 verlorene Tage pro Jahr) und seinen HbA1c-Wert um 1 % senkt, gewinnt 0,77–0,91 QALYs. Hingegen gewinnt ein 75-jähriger Patient unter sonst gleichen Bedingungen nur 0,08–0,10 QALYs. Durch Umstellung auf eine Insulintherapie steigt die therapiebedingte Belastung auf den Wert 0,01 (3,7 verlorene Tage pro Jahr) an. In diesem Fall ist sie für einen 75-jährigen Patienten mit mehr Schaden als Nutzen verbunden: Die anhand der Literaturdaten geschätzten Nebenwirkungen und therapiebedingten Belastungen akkumulieren mit der Zeit und überwiegen gegenüber dem Nutzen einer besseren glykämischen Kontrolle. Das Modell zeigte, dass Patienten in allen Altersgruppen an QALY verloren, wenn sie eine blutzuckersenkende Therapie als belastender (0,025–0,05) empfanden.

Folgerung: Junge Patienten mit Typ-2-Diabetes könnten von einer intensiven Blutzuckereinstellung erheblich profitieren. Von den über 50-jährigen Patienten, die durch Metformin einen HbA1c-Wert unter 9 % erreichen, profitieren viele von einer Therapieintensivierung allenfalls moderat, stellen die Autoren fest. Empfinden die Patienten eine intensivierte Therapie als belastend, dann könne deren Nettoeffekt sogar negativ sein und die Therapie die Zahl der qualitätsadjustierten Lebensjahre reduzieren. Die gängige Praxis, eine möglichst strenge glykämische Kontrolle zu erreichen, sei deshalb zu überdenken.