Gesundheitswesen 2015; 77(03): 129
DOI: 10.1055/s-0035-1548785
Panorama
Mail aus Maastricht
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Ein Leitmotiv für Europa

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Publication Date:
20 March 2015 (online)

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Grenzüberschreitende Versorgung: Für einige ist es angesichts kleiner Fallzahlen die Lösung für ein nicht existierendes Problem und man sieht es eher als Vorbereitung zu einem Binnenmarkt im Gesundheitswesen, von dem nur die multinationalen Konzerne profitieren. Für andere bedeutet es, dass Ausländer die hochwertigen Leistungen des heimischen Gesundheitssystems (aus)nutzen wollen. Aber vielleicht gibt es eine dritte Variante: die eines neuen Leitmotivs für den Sinn der Europäischen Union am Beispiel Gesundheit. Die Bürger der EU haben seit 20 Jahren eine zweite Staatsbürgerschaft; die der EU – symbolisiert durch den roten Reisepass. Und mit dieser Staatsbürgerschaft sollte es eigentlich möglich sein, nicht nur die 4 Freiheiten der EU für Personen–, Geld-, Sach-und Dienstleistungsverkehr zu nutzen, sondern auch für spezielle Gesundheitsleistungen.

Stellen Sie sich vor Sie stammen aus einem der vielen kleinen Mitgliedstaaten der EU – zum Beispiel Estland – und Ihr Kind leidet an einer seltenen Erkrankung. Dass gerade in Ihrem Staat ein Zentrum zur Behandlung dieser Erkrankung existiert ist sehr unwahrscheinlich. Aber dafür vielleicht in Spanien. Mit der EU-Staatsbürgerschaft sollte es doch eigentlich möglich sein, dass ihr Kind eine angemessene Behandlung in diesem Zentrum erfährt. Und dies, ohne dass Sie immer am Ende der Warteschlange stehen oder als „Ausländer“ extra bezahlen müssen. Gleichzeitig muss das Behandlungszentrum entsprechend honoriert werden: für das Vorhalten von mehr Personal und Infrastruktur und auch für andere Dienstleistungen wie z. B. Übersetzungsdienste. Für die administrative und juristische Ausgestaltung der Regelung eines fairen finanziellen Ausgleich sollte die Europäische Kommission sorgen. Dann profitieren beide Seiten: das Zentrum, das seine Qualität durch die Behandlung von mehr Patienten steigern kann, und der einzelne Patient, weil ihm qualitativ besser geholfen wird.

Am Ende der Behandlung sollte dann der Arztbrief in Ihrer Sprache direkt elektronisch an den Hausarzt in Estland versandt werden. Eine eventuell notwendige Nachsorgeuntersuchung sollte auch als Videokonferenz machbar (und abrechenbar) sein, damit man nicht unbedingt reisen muss. Ein eventuell notwendiges Rezept sollte per E-Mail an Sie gesandt werden können, welches Sie dann in der Apotheke um die Ecke auch direkt einlösen können.

Wenn man diese Geschichte abends im Bekanntenkreis erzählt, wird jeder sagen: ja, das ist ein positives Beispiel für die Sinnhaftigkeit der Europäischen Union – so wie übrigens auch die Abschaffung der Roaming-Gebühren. So sollten wir Patientenmobilität dann auch sehen: als Zugang zu angemessener Behandlung für alle Europäer.

Viel hiervon ist in der Richtlinie zu Patientenrechten in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bereits umgesetzt: von der gemeinsamen Technologiebewertung, über das elektronischen Rezept zu gemeinsamen Qualitätsindikatoren und dass Daten dem Patienten folgen.Wie immer liegt aber der Teufel im Detail und es werden weitere Widerstände zu überwinden sein – aber es ist eine realistische Vision, wie wir in Zukunft mit speziellen Erkrankungen umgehen werden. Dann macht es auch Sinn, wenn sich in einem der kleinen Mitgliedstaaten Exzellenzzentren bilden, zu denen Patienten aus den großen Mitgliedstaaten reisen.

Oben genanntes gilt übrigens nicht nur für seltene Erkrankungen. Wenn sich im Augenblick niederländische Patienten wegen langer Wartezeit zu Hause im Ausland operieren lassen, so kann sich das in 10 Jahren umgekehrt haben, weil dann Antibiotika wegen falscher Anwendung nicht mehr wirken, und man bei der Auswahl des Krankenhauses mehr auf die postoperative Infektionsrate als auf Wartezeit achtet – und da sind die Niederländer besser als ihre Nachbarn.

Helmut Brand
Jean Monnet Professor in European Public Health, Universität Maastricht
President European Health Forum Gastein (EHFG)