JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2015; 04(02): 54-55
DOI: 10.1055/s-0035-1549115
Kolumne
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Sache mit der Toleranz

Heidi Günther
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Publication Date:
02 April 2015 (online)

Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Haltung sein, sie muss zur Anerkennung führen.

(Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), dt. Dichter)

Gerade in den letzten Monaten, in Zeiten von Pegida oder nach den Attentaten in Paris im Januar dieses Jahres, ist Toleranz in der Gesellschaft im Großen wie im Kleinen gefordert wie lange nicht mehr.

Wenn wir von Toleranz sprechen, dann sprechen wir von Duldsamkeit, gelten und gewähren lassen fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Wir sprechen von Akzeptanz oder sogar Duldung, von Großzügigkeit und Nachsicht. Jede Toleranz hat allerdings ihre Grenzen. Und es steht ja außer Frage, dass neonazistische Umtriebe, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Missbrauch jeder Art oder Ausländerfeindlichkeit, eben alle diese Unarten und Gefahren, von denen wir in den täglichen Nachrichten hören oder lesen, nicht im Geringsten zu tolerieren sind.

Sicherlich habe ich auch so meine Probleme, wenn sich unser Bundesverfassungsgericht mit der Frage befassen muss, ob ein Kruzifix an den Wänden von Klassenzimmern atheistisch erzogener Kinder Schaden – welcher Art auch immer – zufügt oder nicht. Oder das legendäre Kopftuchverbot in einigen Bundesländern!

Aber – und ich bin ein lebendes Beispiel für ein tägliches Ringen mit den eigenen Toleranzgrenzen – auch ich werde (wie vermutlich viele andere) täglich gefordert, Toleranz zu üben. Ich muss Geduld und Großzügigkeit, Milde und Generosität, Nachsicht und Sanftmut zeigen. Es gibt Tage, da fallen mir alle diese Dinge einigermaßen leicht. Das kann sich dann aber schnell in Ungeduld wandeln und endet nicht selten in schlichtem Aufgeben. Wenn ich mich als Autofahrer im Stadtverkehr mit den oft sehr – vorsichtig formuliert – selbstbewussten Radfahrern auseinandersetzen muss. Oder beim täglichen Kampf und Krampf der Hundehalter und der Nicht-Hundehalter in den Parkanlagen der Stadt. Zu allem Unglück bin ich auch noch der Hundehalter in diesem Spiel, ziehe oft den Kürzeren und übe mich auch dann wieder einmal in Toleranz und Großmut.

Auch in unserem täglichen Arbeitsleben geht es nicht ohne.

Ein Beispiel: Ich ziehe mich ja sehr gern an Höflichkeiten respektive Unhöflichkeiten im profanen Alltag hoch. Ich erwarte nicht etwa irgendetwas Übertriebenes und wenigstens bemühe ich mich um ein Mindestmaß an Umgangsformen mit meinen Mitmenschen. Ich sage ordentlich „Guten Morgen“, wenn ich zur Arbeit komme oder wenn ich zum ersten Mal am Tag in ein Patientenzimmer gehe. Neuen Mitarbeitern, ankommenden Patienten oder deren Besuchern stelle ich mich vor etc. Und mir soll niemand mehr mit dem Spruch, wie es in den Wald ruft … kommen. Ich habe gefühlt unendlich oft erfahren müssen, dass meine Handlungsweisen und Sitten (siehe Definition Toleranz!) oft nur mühsam toleriert wurden.

Nun eine wahre Begebenheit: Frühstückszeit auf der Station. Ein Patient klingelt. Ich gehe in das Zimmer und höre „Süßstoff“. Kein „Guten Morgen“ oder „… können Sie bitte!“ oder irgendwas. Da war meine Duldsamkeit an ihre Grenze gelangt. Ich habe den Patienten gefragt, ob das ein Assoziationsspiel werden soll und würde in diesem Fall „Salzstreuer“ sagen. Habe dann die Tür wieder zu gemacht und bin gegangen. Da war meine Toleranzgrenze für unhöfliches – und ich drücke mich gerade sehr höflich aus – Benehmen mehr als erreicht.

Tolerant ist, wer andere mit ihren Besonderheiten duldet – auch wenn es ihm schwerfällt. Daran muss ich mich einfach ständig erinnern, es gewissermaßen wie ein Mantra vor mir hertragen. Ich habe eine Kollegin, sehr fleißig, sehr freundlich und ausgesprochen kommunikativ. Was aber ihr äußeres Erscheinungsbild anbelangt und das persönliche Empfinden für Frisur, Make-up und Kleidungsstil, da trennen uns Welten oder auch nur eine Generation. Sie ist tätowiert, hat diverse Piercings und eine Frisur ist nur an den ständigen Farbwechseln zu erkennen. Manchmal kann ich nicht anders und muss doch mal nachfragen, ob sie heute mit dem offenen Cabrio zur Arbeit gekommen oder schon mal am Kamm vorbeigelaufen ist. Nichtsdestotrotz ist sie eine gute Kollegin, gute Krankenschwester und ein durch und durch positiver Mensch. Und wer bin ich, der ihre Art zu leben in irgendeiner Weise bemängelt? Solange sie die ihr gestellten Aufgaben auf unserer Station gut erfüllt, sie ihre persönliche Ansichten, ihren Geschmack und ihre Lebensweise nicht anderen aufoktroyieren will und vor allen Dingen solange ich mich nicht piercen und tätowieren lassen muss, ist meine Welt in Ordnung. Denn es ist doch so: Wer tolerant ist, bezieht eine eigene Position, versucht, andere zu begreifen, dazuzulernen und selbst Wissen weiterzugeben. Toleranz bedeutet nicht, immer umwerfend gut zu finden, was man toleriert – aber es immerhin aushalten zu können. Und zu guter Letzt erwarte ich doch selbst mit all meinen Schwächen, Macken (nicht, dass ich welche hätte), eigenen Sichten und Meinungen auf die verschiedenen Dinge des alltäglichen Lebens, mit Toleranz und Respekt bedacht zu werden.

In diesem Sinne,

Ihre

Heidi Günther