physioscience 2017; 13(03): 101
DOI: 10.1055/s-0035-1567220
Gasteditorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Markt, Mode, Wissenschaft ...?

Ein Gasteditorial, angeregt durch den Besuch des Kongresses CONNECT 2017 der Fascia Research Group Ulm
A. Dieterich
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Publication Date:
07 September 2017 (online)

Wer länger therapeutisch tätig ist, hat erlebt, wie Therapien in und aus der Mode kommen. Therapietrends beinhalten Gelegenheiten, Aufmerksamkeit für ein therapeutisches Verfahren zu wecken und wirtschaftliche Chancen, Therapie besser zu verkaufen. Therapietrends bergen auch das Risiko überhöhter Erwartungen, weil gerne eine Therapie zur innovativen Lösung vielfältigster Probleme deklariert wird.

Derzeit ist Faszientherapie ein Hype. Die Faszienforschung trat 2007 beim „First International Fascia Research Congress“ in Harvard erstmals groß mit ausgezeichneter Spitzenforschung öffentlich auf. Es kam zu einem Coming-out bisher wissenschaftlich vernachlässigter Körperstrukturen, zu neuen Perspektiven auf strukturelle Verbindungen und auf damit in Verbindung stehende metabolische und neurale Einflüsse. Parallel und angeschoben von der Kraft wissenschaftlicher Argumente entwickelte sich ein wachsender Markt für verschiedene Formen von Faszientherapie, ihre Utensilien, Faszienfortbildungen und -bücher.

Der Kongress der Fascia Research Group der Universität Ulm CONNECT 2017 spiegelte beeindruckend das breite Spektrum zwischen Wissenschaft und Markt: einerseits exzellente Redner und Vorträge und eine beeindruckende Simultanübersetzung zur Reduktion der englisch-deutschen Sprachbarrieren, andererseits ein fast allgegenwärtiges „Kauf-mich“, ein z. T. aufdringliches Therapiemarketing –, und damit meine ich nicht die obligatorische Industrieausstellung. Einerseits die Wissenschaft, die neue Verbindungen und Einflüsse aufdeckt und andererseits Therapeuten, die Faszien, aber nicht Muskeln therapieren wollen und künstlich isolieren, um ein Alleinstellungsmerkmal zu kreieren. Eine Kluft tat sich auf zwischen dem wissenschaftlichen Niveau des Kongresses und dem Verkaufsverhalten eines Teils der dazugehörigen Branche.

Nun kann man sagen, so ist es halt und alle müssen zusehen, wie sie ihr Geld verdienen. Aber man kann sich auch visionär eine gemeinsame Entwicklung der Therapieberufe zu inhaltlich höherem Niveau wünschen und darauf hinarbeiten. Dafür hat die Wissenschaft viel zu bieten. Wir Therapeuten arbeiten mit sehr unterschiedlichen Erklärungsmodellen (fast) alle am menschlichen Körper, in dem unter anderem Faszien, Muskeln, Nervensystem und Stoffwechsel immer gleichzeitig und untrennbar mehr oder weniger gelungen funktionieren. Wissenschaft bietet die Gelegenheit, die mittlerweile fast unübersehbare Vielfalt der therapeutischen Konzepte auf Basisbezugswissenschaften, Physiologie, Psychologie, Biomechanik, Anatomie etc. zurückzuführen. Das ist eine Chance, konzeptionelle Scheuklappen zu überwinden, Therapie differenzierter einzuschätzen, miteinander statt gegeneinander zu sprechen und Marketing durch gute Argumente besser zu machen.

Eine Orientierung an Bezugswissenschaften könnte auch die Möglichkeit beinhalten, eine gemeinsame, konzeptionsübergreifende Sprache zu benutzen … Aber ja, da ist auch in der Wissenschaft noch viel zu tun. Sprechen wir Wissenschaftler eine Sprache, die die therapeutisch tätigen Kollegen verstehen? Geht es um eine gemeinsame Entwicklung der Therapieberufe zu inhaltlich höherem Niveau? Kommunizieren wir mit klinisch tätigen Kollegen und gelingt es, sie anzusprechen oder interessiert Wissenschaft nur, wenn sie als Verkaufsargument taugt? Für wen forschen wir an was?

Gute Kommunikation lohnt sich und wird belohnt. In der EU Forschungsförderung sind „Visibility“ und „Research Communication“ (www.ec.europa.eu/research/participants/data/ref/h2020/other/gm/h2020-guide-comm_en.pdf) über Forschungsförderung mitentscheidende Kriterien, die eine explizite Kommunikationsstrategie und nachweisbare Bemühungen fordern. Die Elfenbeintürme der Wissenschaft sollen in öffentliche Bühnen verwandelt werden, die zu Sprungbrettern unserer Weiterentwicklung werden.

In diesem Sinne vielen Dank an physioscience und den Thieme Verlag für den Austausch und die Vernetzung, die sie uns Physios ermöglichen.

Viele fruchtbare Aktivitäten wünscht Angela Dieterich

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Angela Dieterich