NOTARZT 2017; 33(03): 116-118
DOI: 10.1055/s-0042-101917
Der toxikologische Notfall
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gefährliches Purgativum

Frank Martens
Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum
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Publication Date:
01 February 2016 (online)

Fall 1

Eine etwa 80-jährige Frau wird mit dem RTW in Begleitung ihrer Tochter in die Notaufnahme gebracht. Anlass der Alarmierung waren seit 2’Stunden bestehendes Erbrechen, Durchfall und Bauchkrämpfe. Zur Vorgeschichte wusste die Tochter zu berichten, dass sie nachmittags ihre Mutter Kerne kauend in der Küche vorgefunden hatte. Diese Kerne hatte die Tochter von ihren Hüllen befreit und in Wasser eingelegt um sie später im Garten einzupflanzen. Sie hatte einige, teilweise gekaute Kerne aus dem Mund der Mutter entfernt. Ihre Mutter, bei der eine zunehmende Demenz bekannt war, negierte jedoch, Kerne gekaut oder geschluckt zu haben. Nachts sei diese dann mit Erbrechen und Durchfall erwacht.


Die Kerne, die sie im Garten einzupflanzen beabsichtigte, identifizierte die Tochter als Samen der Rizinuspflanze ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Ricinus communis. a) Sprossausschnitt mit Früchten von Rizinus, b) Samen (Lieberei R, Reisdorff C. Nutzpflanzen. 8. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2012).

Bei der Untersuchung der Patientin wurde ein Blutdruck von 140/90 mmHg, eine Herzfrequenz von 100/min sowie eine Atemfrequenz von 24/min bestimmt. Die Körpertemperatur betrug 37,1 °C. Die Bauchdecken waren diffus schmerzempfindlich und die Darmgeräusche sehr lebhaft. Wegen anhaltenden Erbrechens wurde Flüssigkeit intravenös gegeben. Oral gegebene Kohleaufschwemmungen wurden wiederholt erbrochen. Antiemetika blieben ohne Effekt. In den nachfolgenden 2 Tagen entwickelte sich trotz parenteraler Flüssigkeitszufuhr ein Volumenmangel mit Hypotonie sowie laborchemischen Zeichen der Dehydratation, der erst durch sehr großzügige Volumengabe beseitigt werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt nahm die Frequenz von Erbrechen deutlich ab und auch die Diarrhö sistierte. Fünf Tage nach dem Kauen der Rizinussamen hatte sich die Patientin weitgehend wieder erholt [1].

Fall 2

Ein 49-jähriger, normalgewichtiger Mann wird in die Rettungsstelle eingeliefert, weil er seit Stunden an unstillbarem Erbrechen, Durchfall, Luftnot, Schwindel und Muskelschmerzen litt. Die Anamnese ergab keine Vorkrankheiten, Der Patient berichtete jedoch, dass er sich das Leben nehmen wollte und sich dazu einen Azetonextrakt aus gemahlenen Rizinussamen hergestellt und von diesem etwa 10 ml intravenös injiziert hatte. Die klinischen Befunde ergaben einen Blutdruck von 70/50 mmHg, eine Herzfrequenz von 120/min, eine Atemfrequenz von 30/min und eine Temperatur von 37,1 °C. Der Hautturgor war vermindert und die Schleimhäute trocken. In der Blutgasanalyse fand sich eine respiratorisch kompensierte metabolische Azidose (pH 7,36; pCO2 25,1 mmHg; HCO3 14 mmol/l). Die sonstigen Blutuntersuchungen zeigten ein deutlich erhöhtes Kreatinin, 10-fach erhöhte LDH sowie erhöhte Transaminasen und eine erhöhte PTT.

Unter der Arbeitsdiagnose eines beginnenden Multiorganversagens im Gefolge der Injektion des Rizinusauszugs mit deutlichem Volumenmangel wurde großzügig Flüssigkeit infundiert. Dennoch besserte sich die schwere metabolische Azidose nicht und trotz Verlegung auf die Intensivstation mit Intubation, Beatmung, weiterer Gabe von Flüssigkeit und Katecholaminen starb der Patient etwa 36 Stunden nach seiner Selbstinjektion [2].

 
  • Literatur

  • 1 Wedin GP, Neal JS, Everson GW. et al. Castor bean poisoning. Am J Emerg Med 1986; 4: 259-261
  • 2 Coopman V, de Leeuw M, Cordonnier J. et al. Suicidal death after injection of a castor bean extract (Ricinus communis L). For Sci int 2009; 189: e13-e20
  • 3 Worbs S, Köhler K. et al. Ricinus communis intoxications in human and veterinary medicine – a summary of real cases. Toxins 2011; 3: 1332-1372
  • 4 Griffiths GD. Understanding ricin from a defensive viewpoint. Toxins 2011; 3: 1373-1392
  • 5 Audi J, Belson M. et al. Ricin poisoning – a comprehensive review. JAMA 2005; 294: 2342-2351
  • 6 Knight B. Ricin – a potent homicidal poison. BMJ 1979; 1: 350-351