Diabetes aktuell 2016; 14(02): 67
DOI: 10.1055/s-0042-106179
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diabetes und Reisen – Volkskrankheit trifft Nationalhobby

Burkhard Rieke
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Publication Date:
26 April 2016 (online)

Der Diabetes mellitus ist eine Volkskrankheit. Den Lesern von Diabetes aktuell muss man das nicht zweimal sagen. Das Reisen andererseits ist so etwas wie ein deutsches Nationalhobby. Uns Reisemedizinern muss man das auch nicht zweimal sagen. Knapp 80 % der Bevölkerung sind jedes Jahr unterwegs (Kurzreisen < 5 Tage unberücksichtigt), hinzu kommen dienstliche Reisen, die niemand zählt. Wen also sollte es wundern, dass Diabetiker reisen? Und doch schweigen sich Lehrbücher, Leitlinien und Schulungskonzepte überwiegend aus, wenn zu klären wäre, welche Besonderheiten auf den Diabetiker unterwegs warten. Das ist ein Phänomen, das der Reisemedizin oft widerfährt. So ausgefeilt die Konzepte zur Therapie auch sind, so sehr gehen sie doch unausgesprochen davon aus, dass der chronisch Kranke am Wohnort oder zumindest im Gültigkeitsbereich der Versichertenkarte bleibt.

Diese Annahme aber stimmt heute nicht mehr, wenn sie denn je gestimmt hat. Diabetiker surfen und trekken, sie tauchen und klettern, sie campen und fliegen. Und mehr noch: sie gehen auf Montage in Kasachstan, nehmen Doxycyclin zur Malariaprophylaxe und wollen mit der Insulinpumpe nach Mozambique (das wäre fast schiefgegangen). Sie messen den Blutzucker in klirrender Kälte, stapfen mit PNP-Füßen durch den Wüstensand und rätseln über den Kohlenhydratgehalt nie gesehener Lebensmittel. Die Diagnose Diabetes trifft eben einen Menschen, der seit Jahrzehnten reist, ein Ferienhaus in Spanien oder Verwandte in der Türkei hat – oder regelmäßig in Thailand überwintert. Und auch wenn sich der Behandler Kontinuität und Konstanz wünscht, so wird dieses Reiseverhalten nicht mit der Neudiagnose Diabetes ad acta gelegt – nein, es repräsentiert schon die Lebensqualität, deren Erhalt das Therapiemotiv ist.

Wenn wir uns daher das Stoffwechselmanagement unterwegs überlegen, so kann man einige reisetypische Einflussfaktoren benennen, die sich auch in den nachfolgenden Beiträgen finden werden:

  1. das andersartige Aktivitätsmuster im Vergleich zur Ausgangslage und schlecht planbare Tagesabläufe,

  2. ungewohnte, schlecht einschätzbare Nahrungsmittel,

  3. reisebedingte Erkrankungen im engeren Sinne und die dadurch bedingten (auch prophylaktischen) Maßnahmen,

  4. Versorgungsmöglichkeiten der Grundkrankheit und evtl. Komplikationen entlang der Reiseroute.

Punkt Nummer 4 ist mir einen Nachsatz wert. Außer in Sondersituationen, also etwa der Versorgung durch Firmen- oder Botschaftsärzte, reiht sich der reisende Diabetiker bei Beratungs- oder auch nur Medikamentenbedarf in die Warteschlange gleichartig Erkrankter im jeweiligen Gastland ein. Je nach Land kann er in guter Gesellschaft sein. Deren pharmazeutische Optionen, um nur diesen Aspekt herauszugreifen, sind nicht üppig. Die aktuelle Ausgabe der WHO Model List of Essential Medicines vom April 2013 nennt 5 Medikamente (Gliclazide, Metformin, Glucagon, Alt- und Intermediär-Insulin) als antidiabetisches Arsenal. Es kann also etwas länger dauern, wenn die ausgeklügelte Medikamentenausstattung des reisenden Diabetikers vergessen oder gestohlen wurde. Und auch die Diagnostik verlässt sich mitunter noch auf schlecht standardisierte Methoden. Mir ist noch lebhaft der Rat zur vereinfachten Stoffwechselselbstkontrolle im Ohr, den die Diabetes-Ambulanz eines westafrikanischen Regionalkrankenhauses ihren Patienten gab: einfach hinter das Haus urinieren und beobachten, ob die Ameisen hinlaufen …

Dem reisenden Diabetiker stellen sich somit viele Fragen, auf die er kompetente Antworten erhofft. Ich habe daher einige Praktiker der Reisemedizin gebeten, zu diesen Fragen die verfügbaren Antworten zusammenzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Reisemedizin eine junge Disziplin ist, die sehr von der Erfahrung derer lebt, die sie anwenden. Eine akademische Repräsentanz steckt noch in den Kinderschuhen. Sie braucht die Initiative einzelner und die Kooperationsbereitschaft der klinischen Fächer. Nur so finden wir mit der Zeit auch besser heraus, was passiert, wenn eine Volkskrankheit auf ein Nationalhobby trifft: Diabetes und Reisen.