Z Gastroenterol 2016; 54(06): 521-522
DOI: 10.1055/s-0042-108129
Brennpunkt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Dickdarmkrebsvorsorge und -früherkennung – was ist erreicht worden, was sind die Herausforderungen?

Contributor(s):
Wolff Schmiegel
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Publication Date:
13 June 2016 (online)

Seit 1976 waren die jährliche digitale rektale Untersuchung und die fäkale okkulte Bluttestung (FOBT) auf Guajakbasis ab einem Alter von 45 Jahren Bestandteil der gesetzlichen Krebsfrüherkennung in Deutschland. Erhoben wurde die Teilnahmerate an diesem Test, die bei Männern knapp über 10 Prozent und bei Frauen etwa 35 Prozent betrug. Ergebnisse der Testung wie Anteil positiver Tests wurden nicht erhoben.

1999 wurde die S3-Leitlinie Dickdarmkrebs auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten unter Beteiligung der Deutschen Krebsgesellschaft, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und Deutschen Krebshilfe erstellt. Es handelte sich um die erste onkologische Leitlinie in Deutschland, die nach den strengen S3-Kriterien erstellt worden war. In dieser Leitlinie wurden die folgenden Empfehlungen ausgesprochen: Beginn der Darmkrebsfrüherkennung mit 50 Jahren. Jährlicher FOBT ab 50 Jahren. Spätestens ab 55 Jahren Durchführung eine Koloskopie, die bei unauffälligem Befund alle 10 Jahre wiederholt werden sollte.

Im Oktober 2002 wurde die gesetzliche Dickdarmkrebsfrüherkennung grundlegend überarbeitet und die Empfehlungen der Bochumer S3-Leitlinie 1:1 übernommen. So wurde das Alter, ab dem mit der Früherkennung begonnen werden sollte, auf 50 Jahre hochgesetzt. Im Alter von 50 bis 54 Jahren wird unverändert die jährliche Durchführung eines FOBT empfohlen. Ab einem Alter von 55 Jahren haben Versicherte Anspruch auf eine Koloskopie, die bei unauffälligem Befund in einem Abstand von 10 Jahren wiederholt werden sollte. Alternativ kann weiterhin ein FOBT durchgeführt werden dann allerdings nur alle 2 Jahre. Die Aufnahme der Koloskopie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krebsfrüherkennung wurde mit strengen Qualitätskriterien verbunden. So wurden Mindestmengen für Koloskopien und Polypektomien, Hygienestandards sowie eine Verpflichtung zur Dokumentation auf einem standardisierten Formblatt vorgeschrieben.

Was war die Grundlage für die Empfehlung der Durchführung einer Koloskopie? Anders als für den FOBT gab es keine randomisierten Studien. Es gab jedoch eine Reihe indirekter Hinweise auf die Effektivität der Koloskopie. Eine entscheidende Studie war hier sicherlich die National Polyp Study unter Leitung von Sidney Winawer. In dieser Fall-Kontrollstudie konnte gezeigt werden, dass durch die Abtragung von Adenomen d. h. Polypektomie eine Krebsentstehung um 70 bis 90 % reduziert werden konnte. Weitere Fall-Kontrollstudien zeigten eine Senkung der Inzidenz kolorektaler Karzinome durch eine Sigmoidoskopie. Somit konnte gezeigt werden, dass durch die Koloskopie anders als durch einen FOBT eine Krebsentstehung verhindert werden kann im Sinne einer Primärprävention (Vorsorge). Hinzu kamen Daten, die die hohe Sensitivität der Koloskopie in der Detektion auch nicht blutender Karzinome nahelegten.

In einem Gutachten gemeinsam mit C. Pox und J. Riemann konnten wir zeigen, dass die Aufnahme der Koloskopie kosteneffektiv und möglicherweise sogar kostensparend sein könnte da eine verminderte Karzinominzidenz entsprechend Behandlungskosten eines fortgeschrittenen Karzinoms vermeidet und das kalkuliert noch ohne die sogenannten zielgerichteten d. h. kostenintensiven Therapien.

Nach der Aufnahme der Koloskopie in die gesetzliche Krebsfrüherkennung (in diesem Fall inklusive Krebsprävention) ging es um das Erreichen einer möglichst hohen Akzeptanz für diese Maßnahme in der Bevölkerung. Hier gebührt große Anerkennung insbesondere der Felix-Burda-Stiftung unter Leitung von Frau Dr. Christa Maar, die sich seit vielen Jahren unermüdlich dafür einsetzt, das Thema Darmkrebsfrüherkennung aktuell zu halten. Später kam die Stiftung Lebensblicke hinzu, die sich u. a. erfolgreich auch für eine betriebliche Darmkrebsfrüherkennung einsetzt.

International hat sich ebenfalls die International Digestive Cancer Alliance unter Federführung von Sidney Winawer und Meinhard Classen wesentlich für die Vorsorgekoloskopie eingesetzt.

Der Erfolg der Vorsorgekoloskopie wäre undenkbar ohne die Arbeit des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung (ZI). Dieses Institut hat das Koloskopievorsorgeprogramm von Anfang an begleitet und die erhobenen Daten der Koloskopie systematisch gesammelt und ausgewertet. Besonderer Dank gebührt Lutz Altenhofen, der gemeinsam mit G. Brenner und später D. von Stillfried, für die Analysen der Daten zuständig war. Die Daten, die von den am Vorsorgeprogramm beteiligten Ärzten erhoben werden, umfassen makroskopische und histologische Befunde sowie aufgetretene Komplikationen. Diese Daten werden vom ZI erfasst und ausgewertet. Die einsendenden Ärzte erhalten einmal jährlich einen Feedbackbericht, in dem Ihnen ein Vergleich ihrer Ergebnisse mit dem anderer Kollegen übermittelt wird. Die Datenbank des ZI beinhaltet mittlerweile die weltweit größte Datenmenge zur Vorsorgekoloskopie. Eine Auswertung der Daten von in den ersten sechs Jahren durchgeführten 2,8 Millionen Vorsorgekoloskopien wurde publiziert und konnte den Nutzen einer solchen Maßnahme unterstreichen. Es fand sich bei etwa 0,9 Prozent der Untersuchten Karzinome, die Mehrzahl in einem frühen Stadium mit sehr guter Prognose. Vor allem aber wurden bei 19,4 Prozent Adenome entdeckt und entfernt mit dem Potential der Krebsprävention. Ernsthafte Komplikationen traten selten auf, was u. a. auf die strengen gesetzlichen Qualifikationsvorgaben zurückzuführen sein dürfte. Auf diesen Daten aufbauend konnte kürzlich von der Arbeitsgruppe von Hermann Brenner aus Heidelberg gezeigt werden, dass in den ersten 10 Jahren vermutlich bis zu 180 000 Karzinome durch die Vorsorgekoloskopie verhindert worden sind. Passend hierzu die ersten überzeugenden Daten aus Deutschland, die eine Senkung der Dickdarmkrebsinzidenz und -mortalität (ca. 40 000 vermiedene Todesfälle von Dickdarmkrebserkrankten) zeigen konnten. So war die Inzidenz bis 2003 ansteigend, hat aber seitdem um etwa 14 % abgenommen (siehe Kommentiertes Referat auf Seite 579).

Das deutsche Koloskopieprogramm wurde insbesondere in den ersten Jahren wiederholt kritisiert u. a. aufgrund des Fehlens randomisierter Studien. Es wurde behauptet, es gäbe eine große Wahrscheinlichkeit, dass durch die Darmspiegelung mehr Menschen Schaden erleiden als letztlich durch die Untersuchung einen Nutzen haben und das jeder 5000. Untersuchte im Zusammenhang mit der Untersuchung stirbt. Die wissenschaftlichen Daten widersprechen diesen unsachgemäßen Behauptungen eindeutig und zuletzt gibt es nur noch vereinzelt kritische Stimmen.

Auch international gab es viele Widerstände gegen die in Deutschland eingeführte Vorsorgekoloskopie. So waren die Befürchtungen groß als eine europäische Leitlinie verfasst wurde, dass eine klare Empfehlung gegen die Vorsorgekoloskopie ausgesprochen werden würde. U. a. aufgrund der Daten aus Deutschland wurde eine derartige Empfehlung jedoch nicht gemacht und die Koloskopie – mit einigen Einschränkungen – lediglich als eine mögliche Vorsorgemöglichkeit erwähnt. Ein berechtigter Einwand gegen das deutsche Darmkrebsprogramm war das fehlende Einladungsverfahren d. h. es handelt sich bis heute um ein opportunistisches Programm. Entsprechend ist davon auszugehen, dass etwa die Hälfte der berechtigten Bevölkerung bisher das Angebot der Koloskopie nicht wahrgenommen hat. Als ein Ergebnis des Nationalen Krebsplans wurde 2013 das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz (KFRG) verabschiedet, in dem u. a. festgelegt wird, dass dieses Jahr noch ein Einladungsverfahren für die populationsbasierte Darmkrebsfrüherkennung etabliert werden muss. Es bleibt abzuwarten, wie der GBA dieses Einladungsverfahren gestalten wird. Es ist zu erwarten, dass primär zu einem Beratungsgespräch über die möglichen Früherkennungs-/-vorsorgemaßnahmen eingeladen wird und nicht primär zu einer Koloskopie.

Im Bereich der Darmkrebsfrüherkennung/-vorsorge ist in Deutschland viel erreicht worden. Es bleibt aber noch eine Reihe von ungelösten Problemen. So gibt es Überlegungen die Dokumentationserfassung der Ergebnisse der Vorsorgekoloskopie auszusetzen. Ein Verzicht hierauf kann schwerwiegende Folgen haben. U. a. führt das Wissen einer lückenlosen Dokumentation des Programms und das hiermit verbundene Feedback zu einem Qualitätsbewusstsein der Untersucher, welches einen hohen nationalen und internationalen Standard gesetzt hat und wissenschaftlich fundierte Daten bereitstellt. Ohne Erfassung wäre eine Aussage zu Ergebnissen und Nebenwirkungen der invasiven Maßnahme unmöglich und damit eine sachgerechte Aufklärung der Früherkennungsteilnehmer erschwert. Daher kann nur gefordert werden, die zentrale Dokumentation und Auswertung unbedingt als obligaten Bestandteil der Vorsorgekoloskopie fortzuführen.

Weiterhin gibt es Stimmen, die für einen früheren Beginn der Vorsorge bei Männern plädieren. Epidemiologische Daten legen nahe, dass das sinnvoll sein könnte. Es fehlen bisher aber valide prospektive Daten, wie Nutzen und Kosten eines früheren Beginns wären.

Ein weiteres ungelöstes Problem stellen Personen mit einem familiär bedingten erhöhten Dickdarmkrebsrisiko dar (ca. 10 000 bis 13 000/Jahr). Es ist bekannt, dass erstgradige Verwandte von Darmkrebserkrankten d. h. Geschwister, Eltern und Kinder, in etwa ein verdoppeltes Risiko haben ebenfalls an Darmkrebs zu erkranken. Diese Risikopersonen sollten bereits früher d. h. im Alter zwischen 40 und 45 Jahren koloskopiert werden. Es wird behauptet, dass eine fehlende Vergütung für eine Koloskopie durch die Kassen bei diesen Risikopersonen Ursache für eine unzureichende Koloskopierate in dieser Gruppe sei. Diese Behauptung ist jedoch nicht zutreffend. Wenn erforderlich wird eine Koloskopie bezahlt. Das Problem besteht vielmehr in einer Identifikation dieser Risikopersonen. Die Identifikation klappt bedauerlicherweise auch in den von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Darmkrebszentren noch nicht zufriedenstellend. Ein sinnvoller Ansatz bestünde darin, die Angehörigen („Drittbetroffenheit“) von Erkrankten auf ihr erhöhtes Darmkrebsrisiko hinzuweisen. Bisher kann das aus Datenschutzgründen nur freiwillig unter Einbeziehung des erkrankten Patienten geschehen. Hier besteht Optimierungsbedarf.

Ein Grund dafür, dass der Gesetzgeber bisher zurückhaltend war bei der Implementierung von Maßnahmen zur Erfassung der familiären Risikogruppen, ist die begrenzte Datenbasis für die Effektivität der Vorsorgeempfehlungen bei dieser Personengruppe. Insofern würde es sich anbieten, den bestehenden Dokumentationsbogen des ZI zu nutzen, um die Effektivität einer früheren Koloskopie bei diesem Personenkreis untersuchen zu können. Um das Problem einer Identifikation von Risikopersonen und Implementierung der empfohlenen früheren Vorsorgekoloskopie zu lösen, sind alle Fachgruppen, die sich mit Darmkrebs beschäftigen gefordert, ein schlüssiges Konzept zu erstellen.

Gleichzeitig könnte der ZI-Bogen genutzt werden um die Ergebnisse der vermutlich in Kürze eingeführten Stuhltestung mittels immunologischer Verfahren (FIT) systematisch zu erfassen.

Durch die Vorsorgekoloskopien wird bei einer zunehmenden Zahl von Untersuchten eine Nachsorge erforderlich. Um die vorhandenen Ressourcen sinnvoll einzusetzen ist es dringend erforderlich, dass für das Postpolypektomiemanagement die Nachsorge-Empfehlungen der S3-Leitlinie eingehalten werden.

Trotz aller Einschränkungen kann das bisherige Darmkrebsfrüherkennungs- und Vorsorgeprogramm in Deutschland als gemeinsamer d. h. interdisziplinärer Erfolg angesehen werden. Das liegt v. a. an den über 2000 zugelassenen Untersuchern, die die Vorsorgekoloskopie mit hoher Qualität durchführen. Jetzt geht es darum den eingeschlagenen Weg fortzuführen und zu verbessern.

Mein Dank gebührt allen Teilnehmerinnen / Teilnehmern an der ersten S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom (Z Gastroenterol 2000; 38: 49–75 bzw.: http://gastronetz-aachen.de/pdf/leitlinie-krk.pdf).

Herrn Professor Dr. med. Dr. med. mult. h. c. Meinhard Classen zum diesjährigen Geburtstag gewidmet.