Z Sex Forsch 2016; 29(04): 372-376
DOI: 10.1055/s-0042-124486
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Grenzen überschreiten

Bericht über die Tagung Transgressing Boundaries and the Intersection of Sexualities in Social Work
Katja Krolzik-Matthei
a   Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur., Hochschule Merseburg
,
Michaela Katzer
a   Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur., Hochschule Merseburg
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Grenzen überschreiten: Was in der sexualwissenschaftlichen Forschungslandschaft in Deutschland in den letzten fünf Jahren vor allem negativ konnotiert war, hat im Titel der ersten internationalen Konferenz der Sexuality and Social Work Interest Group, die am 18. und 19. August 2016 in Olten (Schweiz) stattfand, einen positiven, zukunftsorientierten Anstrich bekommen. Der Titel verweist auf die vermeintliche Grenze zwischen Sozialer Arbeit und Sexualwissenschaft. Vermeintlich deshalb, weil diejenigen, die sich in beiden Feldern bewegen – und das traf auf alle Konferenzteilnehmenden, insgesamt 180 Teilnehmende aus 31 Ländern, zu – längst wissen, dass diese Grenze schlicht nicht existiert und Sexualität in jedem Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit zum Gegenstand professionellen Handelns werden kann. Wenn diese Grenze besteht, dann deshalb, weil sie künstlich erzeugt wird: beispielsweise von Fachkräften, Einrichtungen und Trägern, aber auch von Lehre und Forschung der Sozialen Arbeit, die die Sexualität ihrer Adressat_innen eher als Gefahr oder als Störung der eigentlichen Arbeit wahrnehmen.

In mehr als 60 Beiträgen haben Forschende und Fachkräfte ihre thematischen Zugänge, praktischen Erfahrungen und empirischen Erkenntnisse in deutsch- und englischsprachigen Vorträgen präsentiert. Der überwiegende Teil der Beiträge war im Bereich der sexuellen Vielfalt (Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit als Herausforderung in der Arbeit mit unterschiedlichen Altersgruppen) angesiedelt. Weitere Schwerpunkte waren Sexarbeit sowie Behinderung. Nach vier englischsprachigen Keynotes fanden drei deutschsprachige Sessions und weitere englischsprachige Tagungsbeiträge statt.

Peter Aggleton, eine feste Größe der angelsächsischen Sexualforschung und auch auf UN-Ebene sexualwissenschaftlich engagiert, zeichnete im Eröffnungsvortrag eine vielleicht etwas zu lineare Erfolgsgeschichte der Sexualwissenschaft der letzten 50 Jahre nach, die gemeinsam mit den Neuen Sozialen Bewegungen den Blick auf Sexualität seitens Gesellschaft und Gesundheitswesen von normativen Annahmen hin zu vielfältigen emanzipatorischen Bewegungen öffnete.

Im zweiten Vortrag „The Student Sex Work Project (TSSWP) – Bridging Research and Practice through Innovation” stellten Tracey Sagar und Debby Jones (Swansea University, Wales) ihre Forschungen zu Sexarbeit unter Studierenden vor. Die zum Teil horrenden Studiengebühren und kaum vorhandenen Möglichkeiten staatlicher Studienförderung scheinen zu einem Anstieg studentischer Sexarbeit in Großbritannien geführt zu haben. Als Projekt angewandter Forschung schloss sich an die empirische Arbeit Multiplikator_innen- und Kampagnenarbeit an, die vor allem auf Angebote psychosozialer Beratung für Studierende fokussierte. Sagar und Jones haben in Befragungen von Beratenden festgestellt, dass studentische Sexarbeit nicht als typischer Gegenstand von Beratungen gesehen wird. Dementsprechend verfügen die Beratenden kaum über Wissen zu der Thematik und es gibt kein unterstützendes Material (Plakate, Broschüren etc.). Im Vortrag wurde exemplarisch ein Film gezeigt, der Tagebucheinträge einer Studentin* wiedergibt, die auf diese Weise ihr Studium finanziert.

Am zweiten Tag präsentierte Nick Mulé (York-University/School of Social Work in Toronto/Kanada) seinen Vortrag „Queering up Social Work: From Theory to Pedagogy to Practice”. Mulé umriss das Bedingungsgefüge von Theorien über Geschlecht und Sexualität innerhalb der Sozialen Arbeit unter besonderer Berücksichtigung von Fragen, wie das Wissen um die Vielfalt in Sexualverhalten und Geschlechtsrollen wertschätzend vermittelt werden kann. Er verwies darauf, dass inkludierende Ansätze auch die Überwindung heteronormativer Vorannahmen erfordern. Innerhalb der Sozialwissenschaften müssten insbesondere Queer-Theorien sowohl ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen als auch den Auftrag wahrnehmen, zu mehr Akzeptanz für die betreffenden Gruppen durch die vorherrschende Kultur und Gesellschaft beizutragen.

Im letzten Plenarvortrag „From HIV to Global Health, from Research to Action, from Geneva to Switzerland: The Geneva Gay Men's Health Project” referierte Michael Häusermann aus Genf über das Gesundheitswesen mit Blick auf schwule Männer seit den 1980er-Jahren, das zunächst weitgehend auf AIDS und HIV fokussiert war. Ungeachtet der fortdauernden Bedeutung dieser Themenbereiche auch im Hinblick auf Präventionsmaßnahmen ist die Erweiterung des Blickwinkels wichtig. So ergaben Erhebungen, dass zahlenmäßig Depressionen, neurotische Reaktionen und internistische Krankheitsbilder einen weit größeren Einfluss auf die Gesundheit schwuler Männer haben. Entsprechend sollte die Gesundheitsförderung auch vielfältigere und passendere Angebote liefern, anstatt sich ausschließlich auf HIV/Aids zu fokussieren.

In der German Session 1 „Sexualität und Behinderung – Sexuelle Bildung im Praxisfeld der organisierten Behindertenhilfe mit Menschen im Kontext von Behinderung und Beeinträchtigung“ sprach Daniel Kaspar (FHNW Olten) über die praktische sexualpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Ausgehend von Modellen zur funktionalen Gesundheit und der kompetenten Teilhabe in Anlehnung an Definitionen der WHO thematisierte er das Recht auf Sexualität für alle Menschen. Dieses Recht sei in vielen Einrichtungen der Behindertenhilfe und deren Umfeld stark eingeschränkt und die Beschäftigung mit Sexualität und ihre Akzeptanz als Grundbedürfnis aller Menschen würden häufig negiert. Kaspar stellte anhand von Praxisbeispielen Möglichkeiten und Methoden vor, wie Sexuelle Bildung mit Menschen mit Beeinträchtigungen gelingen kann. In der Veranstaltung wurde auf den an der Hochschule Olten angebotenen Lehrgang „Sexualität und Behinderung“ hingewiesen, in dem diese Thematik für Professionelle vertieft werden kann.

„Sexuelle Bildung studieren – Studiengänge schaffen“ war der Titel der German Session 2, in der das Forschungsprojekt aus der Förderlinie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung der Hochschule Merseburg exemplarisch einige Aktivitäten und Arbeiten vorstellte. Vertreten war die Hochschule Merseburg mit Heinz-Jürgen Voß, Michaela Katzer, Torsten Linke und Katja Krolzik-Matthei. Vorgestellt wurden die sexualwissenschaftlichen Angebote an der Hochschule, die von ihrem Selbstverständnis her das Recht auf geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung betonen. Die Forschungsprofessur hat auch zum Ziel, das Studienangebot zu Sexueller Bildung im Studium der Sozialen Arbeit zu unterstützen und zu festigen. Das zentrale Angebot in diese Richtung bildet der Master Angewandte Sexualwissenschaft. Bereichert wird dieses Angebot durch einen weiteren Master in Sexologie, der gemeinsam mit dem schweizerischen Institut für Sexualpädagogik und –therapie (ISP) durchgeführt wird, sowie durch Angebote im Bachelor-Studium der Sozialen Arbeit. Torsten Linke referierte erste Ergebnisse seines Dissertationsvorhabens, in dem er sich mit der Notwendigkeit und den Möglichkeiten Sexueller Bildung und Beratung speziell im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe und der Jugendsozialarbeit beschäftigt. Dabei untersucht er insbesondere Möglichkeiten der Berücksichtigung von Mehrfachdiskriminierungserfahrungen, insbesondere im Hinblick auf die Verschränkung von sexualisierten und rassistischen Grenzüberschreitungen. Abschließend wurden die zentralen Inhalte des BMBF-Forschungsprojekts sowie erste Ergebnisse der Erhebung zu strukturellen Bedingungen für Migrant_innen-Selbstorganisationen einerseits und Anforderungen an Fort- und Weiterbildung von Fachkräften aus den ambulanten Hilfen zur Erziehung andererseits vorgestellt.

In der dritten und letzten German Session fanden zwei Vorträge statt – einer von Rebecca Morgen, einer von Barbara Kavemann gehalten. Morgen erläuterte ihre Dissertation, in der sie der Bedeutung der Zeigepraxis in Bezug auf Verhütungsmittel bei der heterosexuellen Sexarbeit nachgeht. Sie begleitet im Rahmen ihrer Forschung Sozialarbeiterinnen bei deren Arbeit mit Sexarbeiterinnen (ausgenommen Straßenprostitution) und untersucht, wie bei der Erläuterung des Gebrauchs des Femidoms die Praktik des Zeigens eingesetzt wird und wie unterstützende Erläuterungen stattfinden. In der Diskussion ergaben sich Fragen dazu, ob durch den Gebrauch des Femidoms die Verantwortung zu verhüten in noch größerem Maße auf Frauen verschoben werde und ob der Freier das – zuvor im Verborgenen – eingeführte Femidom bemerke und welche Wechselwirkungen sich bei gleichzeitigem Gebrauch mit einem Kondom ergäben.

Kavemann schloss mit einem Vortrag zu einem aktuellen Forschungsprojekt zum Umgang mit Sexualität in stationären Wohneinrichtungen für jugendliche Mädchen an. Dabei erläuterte sie zunächst den Auftrag der Einrichtungen – einerseits den Schutz, andererseits den pädagogischen Auftrag. Im Anschluss ging sie auf Besonderheiten im Vergleich zum Aufwachsen in Familien ein: So gebe es weniger Aushandlungsmöglichkeiten für die Jugendlichen, ein Spannungsverhältnis zwischen Fremd- und Selbstkontrolle (dabei auch eine Spannung zwischen gefühlter und tatsächlicher Freiheitsbeschränkung), und es seien in den Wohneinrichtungen insbesondere diejenigen Jugendlichen, die schwierige Erfahrungen im Elternhaus gemacht hätten und besonders vulnerabel seien. Damit bestehe die Gefahr einer dauernden Reviktimisierung. In den Einrichtungen selbst gelte oft die (nicht immer offen kommunizierte) Regel „Kein Sex im Kinderheim“, sodass Jugendlichen oft nur die Gelegenheit zu Sex andernorts bleibe, was mehr Gefahren berge. Der Schutzauftrag und die pädagogische Vermittlung eines positiven Verständnisses von Sexualität könnten in Widerspruch geraten. Praxisrelevante Ableitungen kündigte Kavemann für den Projektabschluss an. An den Beitrag schlossen sich Erfahrungsberichte von Fachkräften an sowie konkrete Nachfragen zu ersten praktischen Ableitungen.

Auf einige weitere Sessions sei abschließend kurz eingegangen: Im Symposium 1 mit dem Titel „Sexual Justice and Social Work in the United States: An Intersection of Social Justice, Microaggressions and Sexual Literacy” stellte Michelle G. Thompson (Florida International University, USA) erste Ergebnisse ihrer Forschungen über Erfahrungen queerer Wissenschaftler_innen mit Mikroaggressionen innerhalb des akademischen Kontextes vor. In ihren Forschungen analysiert sie anhand auto-ethnografischer Narrative, welche Arten von Mikrobeleidigungen, Mikroangriffen und Mikroentwertungen sie und ihre Kolleg_innen erfahren haben.

George Turner und Lisa Meyers (Kansas University, USA) stellten Ergebnisse aus einer Interviewstudie vor, in der sie Menschen mit (leichter) geistiger Behinderung zu deren sexuellen Erfahrungen, Einstellungen und Wünschen befragt haben. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass sexuelle Gerechtigkeit soziale Gerechtigkeit darstellt, analysierten sie die Lebensumstände der Befragten hinsichtlich sexueller Bildung, sexueller Selbstbestimmung, sexueller Skripte, sexuellem Vokabular und sexualitätsrelatierter Unterstützung (z. B. Gesprächsangebote von Betreuenden; Sexualbegleitung/-assistenz).

Im dritten Vortrag präsentierte Michael Pelts (University of Missouri, USA) die Ergebnisse einer stichprobenartigen Curriculums-Analyse, für die Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Soziale Arbeit im gesamten Gebiet der USA nach ihren sexualitätsbezogenen Inhalten hin systematisiert wurden. Hier wurde die These, dass sexuelle Bildung notwendig für Soziale Arbeit sei, aufgestellt und begründet und ein Modellcurriculum zur Schließung der Lücke zwischen Bedarf und Angebot vorgestellt.

In der Session 12 über „Sex(uality) and Religion” trug u. a. Malca Graucher (Tel Aviv University, Israel) vor, die Mulitplikator_innen-Workshops für Leiter_innen von Ehevorbereitungskursen innerhalb der ultra-orthodoxen jüdischen Community leitet. Als Sexuologin stieß sie sich an den großen Defiziten hinsichtlich sexueller Bildung im Spannungsfeld zu den zahlreichen religiösen Vorgaben hinsichtlich des sexuellen Verhaltens. In ihrem Vortrag präsentierte sie erste Ergebnisse einer quantitativen Fragebogenuntersuchung unter ultra-orthodoxen jüdischen verheirateten Männern zu deren Erfahrungen mit sexueller Bildung, deren sexuellem Verhalten und sexueller Zufriedenheit. Eines der zentralen Ergebnisse ihrer Untersuchung ist die deutliche Korrelation zwischen der sexuellen Zufriedenheit der Befragten und erlebter sexueller Bildung vor der Ehe.

Eyal Zack (University of Haifa, Israel) bewegte sich mit seiner Untersuchung ebenfalls in der ultra-orthodoxen jüdischen Community. Er untersuchte die Schuldgefühle und Bewältigungsstrategien homosexueller Männer, die in heterosexuellen Ehen leben. Aus den Ergebnissen seiner qualitativen Untersuchung hob Zack vor allem hervor, dass einige der Männer gerade die Religion und die religiösen Schriften, die Homosexualität im Prinzip verbieten würden, nutzen, um ihr Verhalten zu rechtfertigen.

Sexualpädagogisch Tätige wissen, dass es mehrere „Erste Male“ gibt. Das muss wohl auch für die Sexuality and Social Work Interest Group gelten. Diese erste Konferenz war ein toller Auftakt, der eine große Bandbreite nicht-klinischer, sozialpädagogisch orientierter Sexualforschung abbilden wollte. Dieses Vorhaben ist zum großen Teil auch gelungen, wenn auch eine intensivere Befassung und Diskussion spezifischer Fragestellungen wenig Raum hatte. Ebenfalls sehr gut gelungen ist die Selbstverortung der Konferenz innerhalb einer internationalen, anwendungsorientierten wissenschaftlichen Community. Angesichts der Erfahrung, dass die wissenschaftliche Arbeit in diesem Bereich bisweilen einsam und von Widerstand und Abwehr geprägt ist, kann das als wichtiger Erfolg der Konferenz gewertet werden. Für die folgenden „Ersten Male“ wäre neben der Präsentation von Forschungs- und Arbeitsergebnissen besonders Raum für einen Austausch über wissenschaftstheoretische und methodologische Fragestellungen für den Bereich der nicht-klinischen, sozialpädagogisch orientierten Sexualwissenschaft wünschenswert. Möglicherweise liegt hier auch ein wichtiges Betätigungsfeld, wenn es um Fragen der Anerkennung in einer weiter gefassten wissenschaftlichen Community geht. Eine Folgeveranstaltung ist bereits für 2018 in Toronto geplant, außerdem wird es in 2018 einen von Jason Schaub, Trish Hafford-Letchfield und Daniel Gredig herausgegebenen Sammelband mit ausgewählten Beiträgen der Konferenz geben.