PiD - Psychotherapie im Dialog 2017; 18(02): 118
DOI: 10.1055/s-0043-103846
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ian McEwan: Nussschale

Sein oder Nicht-Sein? Ein Fötus im Dilemma
Maria Borcsa
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Publication Date:
09 June 2017 (online)

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Diogenes 2016
978-3-25706982-2
22,– €, 288 Seiten

O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.
(Hamlet, 2. Aufzug, 2. Szene)

Irgendwie dilettantisch. Dieser Mord. Das begreift auch der Fötus, gezeugt von der Mörderin und dem Opfer. Soll ein derart schlampiges Werk etwa von Erfolg gekrönt sein? Das kann, das darf im Lande Shakespeares nicht durchgehen. Und wenn schon nicht Shakespeare, dann wenigstens Agatha Christie oder Edgar Wallace. Aber nein – denn das Ganovenpärchen liest nicht. Zu dumm.

Der Vater unseres Erzählers ist Dichter und wird weder von seinem Bruder noch von seiner Frau – deren Verbindung im Sex beruht – für voll genommen. Doch das heruntergekommene Haus in London, das der Erstgeborene erbte, ist gleichwohl 7 Millionen Pfund wert: viel Geld, das man gemeinsam in guten Wein investieren könnte. Denn eines ist sicher: Unser Fötus kann mittlerweile die Lagen der Anbaugebiete unterscheiden. Nur der Scotch bekommt ihm nicht, da erscheint ihm sein Vater als rächender Wiedergänger, als Geist aus dem Jenseits. Ja, Sie verstehen schon… Sonst ist der angehende Erdenmensch rational veranlagt: hört genau hin (Radiofeatures), zieht aus den Körperreaktionen der Mutter und den Floskeln des Onkels seine Schlüsse. Ein pränatales Verhältnis zur Welt, das zumeist weniger regressiv scheint als das der Erwachsenen.

Diese Perspektive ist bestechend, berührend und erschreckend – denn die Verantwortungslosigkeit der Zeitgenossen gegenüber den Nachgeborenen zeigt sich in zahlreichen Details. Die Bedürfnis- und Lustbefriedigung der aktuellen Generationen, die die Grenze zur Gier längst überschritten hat, wirft seine Schatten voraus. Unser Homunculus lernt von seiner Umgebung und kann dieser nur mit philosophischem Sarkasmus begegnen:

„Ich werde fühlen, also werde ich sein. Soll Armut ruhig betteln, der Klimawandel in der Hölle schmoren, die soziale Gerechtigkeit in Tinte ersaufen. Ich werde zum Aktivisten der Emotionen, ein lauter, engagierter Geist, der mit Tränen und Seufzern darum kämpft, die Institutionen meinem verletzlichen Ich anzupassen. Identität wird zu meinem kostbaren, einzig wahren Besitz, Zugang zur einzigen Wahrheit. Wie ich muss auch die Welt sie lieben, nähren und schützen. Falls mein College sie nicht bestätigt, mir nicht seinen Segen und all das gibt, was ich offensichtlich brauche, drücke ich dem Vizekanzler mein Gesicht ans Revers und weine. Dann verlange ich seinen Rücktritt.“ (S. 204)

Es kommt, wie es kommen muss, zu einem Show-down wie bereits vor 400 Jahren (siehe 5. Aufzug, 2. Szene). Kein gutes Ende, für niemanden in diesem existenziellen Kammerspiel. Auch das Wesen macht sich unschuldig schuldig – mit der leisen Hoffnung, dass nach Gram und Gerechtigkeit schließlich Sinn einkehrt.

Der Rest ist …