NOTARZT 2017; 33(05): 220-223
DOI: 10.1055/s-0043-104874
Der toxikologische Notfall
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kein grüner Tee

T. O. Bender
Charité, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktor: PD Dr. A. Kahl), Berlin
,
F. Martens
Charité, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktor: PD Dr. A. Kahl), Berlin
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Publication Date:
16 March 2017 (online)

Der Fall

Der Rettungsdienst wird durch die Ehefrau des Patienten alarmiert. Sie hatte ihren Mann nach 4,5 Stunden Abwesenheit wegen Halbtagsbeschäftigung im Badezimmer, auf dem Fußboden liegend, bewusstlos und regungslos vorgefunden. Neben ihm stand eine alte Tasse, die Reste einer unangenehm riechenden, grünlichen Flüssigkeit enthielt und am Spiegel klebte ein kurzer Abschiedsbrief.

Die ersteintreffenden Rettungsassistenten sahen einen 56-jährigen, tief komatösen Mann, im Gesicht und auf dem Boden Erbrochenes, eingenässt, mit röchelnder Schnappatmung und nicht messbarer, pulsoxymetrischer Sättigung bei einem Blutdruck von etwa 60 mmHg systolisch sowie einer Herzfrequenz von 50/min. Der danach eintreffende Notarzt intubierte den Patienten ohne weitere Narkose und gab über 2 von den RAs gelegte Verweilkanülen „im Schuss“ balancierte Elektrolytlösung sowie insgesamt 6 mg Atropin bei Verdacht auf Insektizidvergiftung.

Unter diesen Maßnahmen stieg die Herzfrequenz an, die pulsoxymetrische Sättigung ließ sich mit etwa 88% ableiten, doch der Blutdruck blieb niedrig. Daher entschloss sich der NA zur Gabe von Noradrenalin und zum raschen Transport in das nächstgelegene Kreiskrankenhaus.

Bei Aufnahme in der Klinik bot sich ein unverändertes Bild mit schwerem Schockzustand, Lungenversagen und akutem Nierenversagen. Die Ehefrau des Patienten hatte inzwischen eine halbleere Flasche des Insektizids Bi58®, das Dimethoat als Wirkstoff enthält, im Gartenschuppen gefunden. Dessen Geruch entsprach dem Geruch der Reste in der Tasse, die im Badezimmer gestanden hatte.

Unter dem nun hochwahrscheinlichen Bild der Insektizidvergiftung mit Multiorganversagen nahmen die Kollegen mit der Universitätsklinik Kontakt auf und verlegten schließlich den Patienten 4 Stunden nach dessen Auffinden mit dem Intensivtransporthubschrauber auf unsere Intensivstation.

Wir übernahmen den Patienten unter laufender Noradrenalininfusion (4 mg/h), Analgosedation mit Midazolam/Fentanyl, Atropin mit 4 mg/h, beatmet mit 100% Sauerstoff PEEP 10 mit einem Blutdruck von 80/40 mmHg, Herzfrequenz 100/min mit pulsoxymetrischer Sättigung von 100%.

Bei Nierenversagen und hohen Laktatwerten begannen wir zunächst mit einer 8-stündigen (2 × 4 Stunden) Hämodialyse, gefolgt von insgesamt 3 Tagen mit kontinuierlicher Hämodiafiltration. Danach kam die Urinproduktion wieder in Gang und im weiteren, insgesamt 26-tägigen Verlauf mussten keine weiteren Nierenersatzverfahren angewendet werden. Unter Volumenzufuhr konnte über 6 Tage das teils sehr hoch dosierte Noradrenalin reduziert und schließlich beendet werden. Am 7. Tag nach Aufnahme hatte sich der Kreislauf und die Lungenfunktion soweit gebessert, dass der Patient nach Pausieren der Analgosedation extubiert werden konnte. Leider hielt die Phase der Spontanatmung mit intermittierendem Masken-CPAP nur etwa 48 Stunden an, da der Patient seine großen Mengen an Bronchialsekret mangels Muskelkraft kaum abhusten konnte. Auch die erneute Gabe von Atropin in gesteigerter Dosierung konnte die Reintubation nicht verhindern. Wolkige Verschattungen im Thoraxröntgen und erhöhte Entzündungszeichen ließen differenzialdiagnostisch auch an eine Retentionspneumonie denken. Nach weiteren 5 Tagen Beatmung, antibiotischer Behandlung und jetzt kontinuierlicher Atropingabe gelang eine erneute Extubation am 17. Tag nach Aufnahme. Ein anfänglicher Verwirrtheitszustand „Delir, Durchgangssyndrom“ komplizierte die ersten Tage, doch dann zeigte sich eine stetige Besserung.

Mehrere Versuche, die kontinuierliche Medikation mit Atropin zu beenden, misslangen zunächst, da jeweils erneut größere Mengen Bronchialsekret entstanden, die auch den Gasaustausch störten. Letztlich konnte Atropin erst am 25. Tag ohne schädliche Folgen beendet werden. Am Folgetag wurde der Patient nach psychiatrischem Konsil in eine heimatnahe Psychiatrie zur weiteren Behandlung verlegt. Die Dosierungen von Noradrenalin, Atropin, die Tage mit Beatmung, die Herzfrequenz und der Verlauf der Pseudocholinesterase sind in [Abb. 1] dargestellt. Bemerkenswert sind die hohen Gesamtdosen von Noradrenalin von 680 mg und die des Atropins von 330 mg.

 
  • Literatur

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