Dtsch Med Wochenschr 2018; 143(04): 221
DOI: 10.1055/s-0043-105171
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Differenzierte medikamentöse Therapie – im höheren Lebensalter besonders wichtig

Differentiated Drug Therapy – Especially Important in Old Age
Erland Erdmann
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Publication Date:
22 February 2018 (online)

Kürzlich las ich, dass in einer Untersuchung von mehr als 14 000 über 80-jährigen Patienten 26 % ein Statin einnahmen, davon 71 % zur Primärprävention. In einer anderen, ähnlichen Publikation erhielten sogar 68 % von über 250 000 ausgewerteten Erstverordnungen ein Statin zur Primärprävention [1]. Die stets kritische Herausgeberin von JAMA, Prof. Rita Redberg, meinte dazu: Von 100 Patienten, die 5 Jahre lang regelmäßig ein Statin zur Primärprophylaxe einnehmen, vermeiden zwar 2 ein kardiovaskuläres Ereignis, keiner lebt aber deswegen länger, und 5 – 20 werden an Muskelschmerzen, Schwäche, Müdigkeit, kognitiven Dysfunktionen und/oder Diabetes leiden [2].

Offensichtlich gibt es das Problem der unüberlegten Übertherapie. Nach Berichten der Krankenversicherungen nehmen 26,7 % der älteren Versicherten regelmäßig 5 oder mehr Medikamente ein. Sehr wahrscheinlich wird diese potenziell gefährliche Übertherapie durch Leitlinien sogar gefördert, da diese dazu tendieren, für jedes Krankheitszeichen ein Medikament vorzuschlagen – auch wenn dieses nur in einem kleinen Prozentsatz hilfreich sein könnte. Die Abschätzung eines potenziellen Schadens gegenüber einem zu erwartenden Nutzen gestaltet sich meist schwierig oder unmöglich: Medikamenteninteraktionen, Nebenwirkungen oder Schädigungen werden nur selten genau beziffert und von Ärzten und Kranken oft verdrängt. Dies betrifft besonders alte Patienten, die häufig an mehreren Krankheiten leiden, aber kaum in kontrollierten Studien untersucht wurden.

Dass diese Problematik sehr relevant und aktuell ist, beweisen die drei Artikel über die heutige sehr differenzierte altersgerechte Therapie im Dossier dieses Heftes: In seiner Aufstellung der medikamentösen Therapie kardiologischer Erkrankungen im Alter (siehe S. 236) zeigt R. Schwinger unter anderem, dass es für viele kardiovaskuläre Krankheiten, die besonders alte Menschen betreffen, gar keine Evidenz-basierten Behandlungsergebnisse gibt. Die Leitlinienempfehlungen sind oft einfach nur von Untersuchungen an etwa 60-Jährigen abgeleitet worden und müssen hinterfragt werden, da sie weder Begleiterkrankungen noch die eigentlich im Vordergrund stehende Lebensqualität berücksichtigen. Die Onkologie ist mit dem Problem des vorsichtigen Abwägens zwischen möglicher Lebensverlängerung und dem Risiko der verminderten Lebensqualität sehr vertraut, wie Goede und Hallek (siehe S. 244) in ihrem wirklich lesenswerten Artikel an mehreren Beispielen aufzeigen.

Auch der Typ-2-Diabetes bedarf im höheren Lebensalter einer speziellen Behandlung, die sich vorwiegend an der Funktionalität der Patienten und der noch zu erwartenden Lebenszeit orientieren sollte. Hypo- und Hyperglykämien sind dabei unbedingt zu vermeiden. Dementsprechend plädiert D. Müller-Wieland gegen den Einsatz von Sulfonylharnstoffen oder Insulin im höheren Lebensalter (siehe S. 253).

Die altersentsprechende medikamentöse Therapie, darauf weisen alle Autoren übereinstimmend hin, sollte sich durch eine der verminderten renalen Funktion angepasste niedrig dosierte Behandlung mit möglichst wenigen Pharmaka auszeichnen. Dieses Ziel verfolgt im Übrigen auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) mit ihrer Initiative „Klug entscheiden“, mit der sie Übertherapie sowie diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu identifizieren versucht, die oft nicht fachgerecht erbracht werden [3].

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Prof. Dr. med. Erland Erdmann
 
  • Literatur

  • 1 Cascino T, Vali M, Redberg R. et al. Guideline concordance of new statin prescriptions: Who got a statin?. Am J Manag Care 2017; 23: 528-533
  • 2 Redberg R. Statins for primary prevention – The debate is intense, but the data are weak. JAMA Internal Medicine 2017; 177: 21
  • 3 Hasenfuß G, Märker-Herrmann E, Hakkel M. et al. Gegen Unter- und Überversorgung. Dtsch Ärztebl 2016; 113: A-600