Neonatologie Scan 2017; 06(02): 85
DOI: 10.1055/s-0043-108115
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das stumme Intervall und das dicke Ende

Axel Hübler
,
Gerhard Jorch
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Publication Date:
21 June 2017 (online)

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Axel Hübler
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Gerhard Jorch

Liebe Leserinnen und Leser,

perinatale neurologische Komplikationen sind dem neonatologisch Tätigen bei Früh- und Reifgeborenen geläufig. Im Vordergrund stehen hier bei Frühgeborenen die intraventrikuläre Hirnblutung und die periventrikuläre Leukomalazie, bei Reifgeborenen die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie nach perinataler Asphyxie und der Infarkt der A. cerebri media sowie in beiden Gruppen die neonatale Meningitis, angeborene Fehlbildungen und metabolische Enzephalopathien. Sie werden in der Neonatalperiode im Wesentlichen durch die Schädelsonografie, die MRT-Diagnostik, das konventionelle und amplitudenintegrierte EEG, die klinisch-neurologische Beobachtung/Untersuchung und Laboruntersuchungen erfasst.

Häufig bilden sich diese Befunde nach den ersten Lebenswochen zurück und insbesondere die klinisch-neurologische Untersuchung bei Entlassung wird als unauffällig oder fast unauffällig bewertet. Nicht selten wird in Arztbriefen die Redewendung „bei Entlassung grob neurologisch normal“ verwendet. In den folgenden Monaten gilt das Kind dann bei seinen Eltern als neurologisch normal und auch dem die Vorsorgeuntersuchungen durchführenden Kinderarzt fällt nichts Schwerwiegendes auf. Erst bei der U5, in einigen Fällen sogar erst bei der U6, kommt dann das böse Erwachen, indem nun eine Zerebralparese oder ein BNS-Anfallsleiden deutlich wird. Es resultiert dann ein Vertrauensverlust seitens der Eltern, die nach belastenden Anfangswochen aufatmeten und nun erneut vor einer ungewissen Zukunft stehen.

Das klinisch „stumme Intervall“ hat entwicklungsbiologische Gründe: Zur Ausprägung einer Zerebralparese muss sich die pyramidale Motorik und die reife Tonusregulation ab dem zweiten Trimenon (korrigiertes Alter!) entwickeln; das Auftreten von BNS-Anfällen erfordert einen bestimmten Reifegrad des Hirns.

Unser Fortbildungsbeitrag „Früherkennung der Infantilen Zerebralparese“ der Autorengruppe um T. Orlikowsky zeigt auf, wie bereits im stummen Intervall eine Zerebralparese mit hoher Sensitivität und Spezifität erkannt werden kann, wenn man sich nicht allein auf die Hirnsonografie verlässt. Neben einer subtilen klinisch-neurologischen Untersuchung und Ergänzung der sonografischen Bildgebung durch MRT ist dazu insbesondere das „General Movement Assessment“ nach Prechtl mit einer Spezifität und Sensitivität von jeweils 98 % unschlagbar treffsicher.

Da die neuronale Plastizität im frühen Säuglingsalter am höchsten ist, ist für eine frühzeitige therapeutische Intervention in dieser Zeit die bestmögliche Chance zu erwarten, die funktionellen Folgen der Infantilen Zerebralparese zu mildern. Allerdings mangelt es aktuell noch an Studien, die die langfristige kognitive und motorische Verbesserung durch therapeutische Interventionen näher spezifizieren.

Die neonatale Neurologie, d. h. die Erforschung und therapeutische Nutzung der biologischen Plastizität, dürfte ein hohes Zukunftspotenzial haben. Der Fortbildungsartikel in diesem Heft zeigt auf, in welche Richtung es gehen könnte.

PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Gerhard Jorch
Direktor der Universitätskinderklinik Magdeburg