Balint Journal 2017; 18(02): 55-58
DOI: 10.1055/s-0043-111779
Deutscher Studenten Balint Preis
Miriam Perricone
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Angelina Jolie, Wut und Fruchtbarkeit

1. Preis – Deutscher Studenten Balint PreisAngelina Jolie, Anger and Fertility
Miriam Perricone
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Publication Date:
03 July 2017 (online)

Die Übung

Freitagnachmittag, November 2015.

Supervidierter Patientenunterricht+patientennaher Unterricht, Campus Charité Virchow Klinikum Berlin, 15–18 Uhr. In der Dunkelheit des tiefen Herbstes.

Thema: „Patientin mit Amenorrhö“ Sechstes Semester Humanmedizin. Gruppe à 3 Studenten. Der Kurs ist jede Woche auf einer anderen Station und so aufgebaut, dass die Studenten zu Anfang kurz mit dem Stationsarzt über das Thema sprechen und anschließend eine Anamnese erheben, teilweise allein, teilweise in Gruppen. Im hier beschriebenen Kurs führen wir die Anamnese allein durch, bevor wir uns im dritten Teil des Kurses die Fälle gegenseitig vorstellten.

Der Arzt, Mitte 30, holt uns für den Kurs vor der gynäkologischen Station ab. Ausländischer Akzent, üblicher OP- Kasak und ungewöhnliche Verspätung. Wir sind zu dritt, pünktlich und haben weiße, zerknitterte Kittel an. Der Arzt unterhielt sich nochmal auf dem Gang mit den Kollegen, während wir schon ins Ärztezimmer gehen, um unsere Rucksäcke abzustellen.

  • Was ist das heutige Thema?“ „Amenorrhö.”

  • Das Gespräch ging sehr schnell los: Welche Ursachen kennt ihr dafür? Welche Krankheiten könnten zu Grunde liegen? Welche operativen Eingriffe sind möglich? Beim Erklären zeichnet der Arzt ein Uterus auf einem Blatt Papier auf und verschiedene Blutungsmöglichkeiten. Der Kommilitone, der neben mir sitzt, schaut mich angeekelt an und versucht mich zum Lachen zu bringen – was er auch schafft. Der Arzt redet und redet und redet. Sitzt so, als ob er in einem Café in der Sonne in dem beliebtesten Skigebiet der Schweizer Alpen sein würde. Eine Milch mit Schokolade, bitte. „Habt ihr Fragen dazu? Sind Fragen noch offen, bevor ihr zu den Patientinnen geht?

  • „Ok. Die erste Patientin, Frau A. Zimmer 23. Du?

  • „Ja, gerne!

Und es geht los.

Hinter dem Arzt im Gang zu gehen, ist der erwartungsvollste Moment überhaupt. Wer im Zimmer liegt, was für eine Geschichte die Person mitbringt, ist immer ungewiss. Angespannt, weil es um eine Anamnese alleine geht, ohne die übliche Hilfe meiner Kommilitonen, mache ich die Tür auf. Habe ich alle Fragen im Griff? Meinen Leitfaden für eine strukturierte Anamnese auf dem Schirm? Ich glaube ja. Die Erinnerungen ans Pflegepraktikum auf der gynäkologischen Station in Italien sind noch sehr lebendig, auch wenn es schon zwei Jahre her ist. So viel Unterschied seit damals sollte es ja nicht geben und die Umgebung fühlt sich, im Vergleich zu anderen Stationen, vertraut an.

Trotz meiner Anspannung muss ich ein bisschen vor dem Zimmer warten, bis der Arzt mit der Patientin klärt, ob mein Unterricht überhaupt noch stattfinden kann. Ist zwar ungewohnt, es kommt aber vor, dass Patienten in letzter Minute nicht mehr teilnehmen wollen. Ist es vielleicht heute der Fall? Könnte sein, dass ich doch keine Anamnese erheben darf? Ungewiss. Doch werde ich schneller als gedacht im Zimmer vorgestellt, 2 Menschen sind darin. Ein Mann sitzt am Fenster und eine Frau liegt auf dem Bett, mir den Rücken zugewandt, komplett umgedreht, sodass sie ihre Füße auf dem Kissen liegen hat. Ihr ist anscheinend übel und sie dreht sich erstmal nicht um. Störe ich einem schwierigen Moment? Gespräch? Eine vielleicht intime Situation? Fühlt sich fast so an. Ich ziehe aber alle meine Kräfte zusammen und stelle mich bei beiden vor.

„Guten Abend, mein Name ist M.P. Danke, dass sie an unserem Unterricht teilnehmen!”

Es ist noch ein Stuhl frei, er wird mir angeboten. Entweder war das Doppelzimmer überdurchschnittlich groß, oder ich fühlte mich kleiner als sonst. Die riesigen Fenster ließen in die dunkelste Zeit des Jahres blicken. Die Lichter der anderen Stationen der Berliner Uniklinik im Wedding, der Hof, die Feierabendstimmung, die schnellen Krankenpfleger auf Station. Die Pflege kommt mir so vor, als ob sie immer für alles bereit wäre, unmittelbar Bescheid weiß und die Fäden der ärztlichen Tätigkeiten ziehen würde. Frau A. hatte sich inzwischen etwas aufrecht hingesetzt, sie ist blond, trägt kurze Haare und trinkt gerade eine Tasse Tee in ihren Sportklamotten. Hübsch und in sehr guten Allgemeinzustand. Ihr hätte man keine große OP vor einer Woche zugetraut. „Was hat sie hierher geführt?” Die beiden gucken sich an. Alle bleiben kurz still, schweigen. Wen ich direkt ansprechen kann, hat sich noch nicht ergeben. Frau A. dann ihren Mann gegenüber: „Willst Du anfangen?“

  • „soll ich deine Geschichte erzählen…?"

  • „Ja, fang doch mal an…”

  • „Was uns hierher geführt hat, ist ein beidseitiges faustgroßes Ovarialkarzinom, das schon Teils des Darmes, Zwerchfells und der Lunge befallen hatte…” Ich zucke innerlich kurz zusammen und gefühllos denke ich „Oh, das habe ich echt nicht erwartet.”

  • „Wie wurde das entdeckt?” Frau A. steigt bei der Frage mit in das Gespräch ein. Geht es ihr mit dem Tee doch besser, sodass sie auch sprechen kann? Ich hoffe es.

  • „Ich hatte so einen Bauch, als ob ich 5 Monate schwanger wäre…”

  • „Die OP ist schon letzte Woche gelaufen, es ist tumorfrei operiert worden.” “Es wurde auch eine Art Plastik am Zwerchfell implantiert, um die Elastizität nicht zu verlieren, könnten Sie mir sagen, was das für ein Material ist…?“

  • „Nein, leider bin ich überfragt…Das Zwerchfell ist ja ein Muskel, der von einer Seite zur anderen des Thorax geht und hilft bei der Einatmung, die Ausatmung ist passiv…Sie können aber sicherlich den Arzt nochmal ansprechen, welches Material da eingebaut wurde, ich habe leider den OP Bericht nicht gelesen”

  • „Ach so, verstehe, verstehe…”

  • „Welche Beschwerden hatten Sie, als Sie sich in der Rettungsstelle vorgestellt haben?”

  • „Ich habe gemerkt, dass ich Blähungen hatte, Schmerzen und einen immer größeren Bauch…in der Rettungsstelle wurden Ultraschall, CT usw. gemacht und der Tumor wurde festgestellt. Das war vor 3 Wochen”

  • „Wo war das?”

  • „In Freiburg”

  • „Und die OP aber in Berlin?”

  • „Ja, in Berlin”

  • „Warum denn in Berlin?”

  • „Wir wohnen und leben in Freiburg. Da hätten die Ärzte keine Operation durchgeführt, deshalb haben wir uns eine zweite Meinung von der Berliner Uniklinik geholt, die operieren wollten.”

  • „Wie lief die OP sonst? Was hat Sie am meisten belastet in der Zeit?“

  • „Als ich im Aufwachraum nach der Anästhesie aufgewacht bin, hab mich verloren gefühlt. Die Neonlichter an der Decke, ich war alleine im Raum – Die Kälte des OP Saals. Die OP lief aber gut, die Narbe ist inzwischen gut geheilt und die Entlassung steht an. Ich habe aber da vor Kälte gezittert und in dem Moment, wusste ich nicht mehr, was passiert war”

„Wissen Sie schon, wie es für Sie jetzt weitergehen wird?”

  • „Weiß ich noch nicht. Ich habe Angst vor der Chemotherapie…werde ich gut darauf reagieren? Werde ich die Haare verlieren…? Muss ich mir eine Perücke besorgen?”

„Werden Sie die Chemo ambulant dann in Freiburg machen?”

  • „Ja”

  • „Beruflich bin ich Krankenschwester in der Kinderpsychiatrie”

  • „Haben Sie Kinder?“

  • „Nein, keine Kinder”

  • „Der Wunsch wäre da gewesen, aber vielleicht kamen keine wegen…”

  • „Kinderpsychiatrie…wir waren mit dem Kurs diese Woche zum ersten Mal in der Kinderpsychiatrie, die Station ist auch hier in der Nähe…”

  • „Wo denn genau?“

  • „Die Straße runter, da gibt es die Tagesklinik und die Kinderstation, während hier im Gebäude im 4. Stock gibt es die Jugendstation”

  • „Welche Kinder haben Sie dort getroffen?”

  • „Ein Mädchen, bei der ein Verdacht auf Münchhausen-Syndrom gab bzw. Missbrauch und ein Mädchen mit Anorexie, bei der die älteren Schwester auch daran erkrankt war. Jeweils sechs und acht Jahre alt..”

  • „Wie geht es jetzt für Sie beruflich weiter? Sie sind sicherlich krank geschrieben…”

  • „Ja, ich weiß nicht, wie lange und so”

  • „Die OP ging acht Stunden lang”

  • „Acht Stunden lang?!”

  • „Ich bin tumorfrei”

  • „Kennen Sie Angelina Jolie?”

  • „Ich würde gerne zu Ihrer Geschichte zurückkehren”

  • „Ja, für uns ist das eine Übung, das machen wir jede Woche”

  • „Gab es in ihrer Familie schon ähnliche Erkrankungen?”

  • „Ja, meine Mutter und meine Oma hatten beide Brustkrebs…vielleicht kennen Sie das über Angelina Jolie, sie hat das BRCA1-Gen…ich hatte wegen der familiäre Veranlagung an dem Vorbeugungsprogramm für Brustkrebs teilgenommen, aber über das erhöhte Risiko an Eierstockkrebs zu erkranken, wurde ich nicht informiert. Oder ich wollte einfach meine Eierstöcke in Ruhe lassen, wir haben versucht Kinder zu bekommen.”

  • „Stimmt, das hatte ich auch gelesen, dass Angelina Jolie mehrere Operationen durchführen ließ”

  • „Vorsorgeuntersuchung für Ovarialkarzinom? Nein, ich habe nur die jährliche Vorsorgeuntersuchung gemacht. Die letzte war im August diesen Jahres, und die Aszites ging im Oktober los”

  • „Das mit der Mutation, ich hätte mich testen lassen, weil ich die familiäre Veranlagung hatte”

  • „Darf ich Ihre Narbe sehen?”

  • „Narbe trocken, sauber, geht vom Proc. Xiphoideus bis unter dem Bauchnabel, komplett einmal durch…“

  • „Mit wie vielen Stichen wurde dann genäht? Wissen Sie das?”

  • „Vielen lieben Dank, dass sie den Unterricht mitgemacht haben, dass sie Ihre Geschichte mit mir geteilt haben, haben Sie Fragen an mich?”

  • „Nein”

  • „Ich wünsche Ihnen weiter alles Gute, dass Sie schnell auch wieder raus sind und dass Sie ihre Ruhe haben können..Alles Gute”

  • „Tja, man denkt, man macht alles richtig..und dann so was…”

  • „Ja, leider kann man nichts dafür. Danke nochmal für die Zeit!”

  • „Tschüss /Tschüss”

Eins, zwei, drei. Ich bin raus. Atme tief ein und aus. Es fühlte sich für mich so an, als ob die Patientin in einer Terminalphase wäre und das Thema Tod noch nicht mal angeschnitten wurde. Klar, wer würde das denn mit Ende dreißig überhaupt anschneiden wollen, wenn man mitten im Leben steht, hoffnungsvoll nach vorne schaut und einen sympathischen Mann an der Seite hat. Als ich sie verabschiedete ging mir der plötzliche und starke Gedanke durch den Kopf, dass ich die Patientin nicht vergessen werde. Die Traurigkeit, die mich im Raum erfasste, war unsagbar und noch unmöglich für mich, diese anzugehen. Die Offenheit, mit der die Patientin alles erzählte und die Eindrücklichkeit der gewaltigen Geschichte, die Geschwindigkeit mit der die Operation passierte kam auf mich zu. Ich fühlte Trauer, Wut und blieb still in meinen Gedanken gefangen, während ich allein zum Arztzimmer zurückkehrte.