PiD - Psychotherapie im Dialog 2018; 19(01): 119-120
DOI: 10.1055/s-0043-123307
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Wir sind nie nur Denk-Menschen, sondern immer auch Fühl-Menschen“

Interview mit Prof. Dr. med. em. Dr. h. c. Luc Ciompi
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 March 2018 (online)

Herr Prof. Ciompi, im Zusammenhang Ihres Ansatzes der „Affektlogik“ beschreiben Sie den Menschen als Homo sapiens emotionalis und setzen dem Dualismus von Denken und Fühlen ein anderes Verständnis gegenüber. Können Sie uns bitte dieses Verständnis etwas näherbringen?

Emotionen, Affekte, Gefühle einerseits und Kognition, Denken, Wahrnehmen, sich Erinnern andererseits wirken überall und andauernd zusammen. Sie gehören engstens zusammen, selbst dort, wo man meint, dass keine Emotionen im Spiel wären. Vor allem, wenn man den Affekt-Begriff weit fasst: Es geht um Gestimmtheit, die immer da ist. Selbst wenn ich gelassen bin, ist das eine Art Stimmung, die mein Wahrnehmen, Denken, Erinnern und auch meine Entscheidungsfindung tiefgehend beeinflusst. Es ist unsere Verfasstheit, unsere Art, in der Welt zu sein: Wir sind nie nur Denk-Menschen, sondern immer auch Fühl-Menschen, da wir im Körper sind, und der Körper immer irgendwie gestimmt ist: gespannt, angstvoll, wütend oder eben gelassen.

Gab es in Ihrem Berufsleben eine Art biografisches Schlüsselerlebnis, das Sie zur Erarbeitung dieses Modells inspirierte?

Nicht als ein einzelnes Erlebnis, aber sehr wohl als eine Konstellation, eine Situation. Ich habe meine Psychiatrieausbildung mit gewöhnlicher Psychopathologie und Psychiatrie begonnen und mich dann ganz intensiv, 20 Jahre lang mit Psychoanalyse beschäftigt, in Ausbildung etc. Im Lauf der 60er, 70er Jahre habe ich dann irgendwie festgestellt, ich komme so nicht weiter: Mir fehlte noch etwas anderes: das Kognitive, das Denkerische. Ich bin dann auf Piaget gestoßen, den ich intensiv studiert habe. Aus dieser Konstellation (einerseits das Psychoanalytische, wo es in erster Linie um Affektdynamik ging, andererseits die Genese des Denkens beim Kind und Adoleszenten, wie sie Piaget ganz wunderbar analysiert und in seiner genetischen Epistemologie beschrieben hat) ist dann eine Zusammenschau, der Versuch einer Synthese entstanden.

Sie beziehen sich in Ihrem theoretischen Modell auf die allgemeine Systemtheorie sensu Prigogine und brachten im praktischen Kontext die Sozialpsychiatrie – Stichwort: Soteria – voran. Wie sehen Sie heute den Stellenwert der Sozialpsychiatrie einerseits und des systemischen Modells andererseits?

Mein praktischer Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Systemtheorie – ich bin während eines Sabbaticals bei Prigogine gewesen – kam von der Beschäftigung mit Familiendynamiken. Während Konzepte aus der Systemtheorie heute zum Allgemeingut geworden sind und sie immer mehr im Kommen ist (Sie finden in jeder Zeitung einen Anflug von systemtheoretischem Gedankengut), sieht es bei der Sozialpsychiatrie zumindest akademisch verheerend aus: Da die sozialpsychiatrischen Lehrstühle verschwunden sind, werden diese Ansätze nicht gelehrt und natürlich dann auch kaum noch beforscht, das ist ein Circulus vitiosus. Die Biologische Psychiatrie mit ihren bildgebenden Verfahren hat die Sozialpsychiatrie als Paradigma aktuell in den Hintergrund gedrängt, denn ihre Konstrukte sind natürlich viel leichter messbar als das Soziale, und die Quantifizierung und Digitalisierung entspricht viel mehr dem Zeitgeist – von finanziellen Interessen ganz abgesehen. Sozialpsychiatrie und Systemtheorie gehören aber sehr eng zusammen! Ich bin tief überzeugt, dass die Sozialpsychiatrie akademisch auch wieder gestärkt wird – nicht nur, weil sie an der Basis sehr gut arbeitet, sondern weil auch die Wissenschaft langfristig Umgebungsfaktoren nicht leugnen kann.

„Der Schönheitssinn des Menschen ist schwer fassbar.“

Eines Ihrer letzten Bücher befasst sich mit kollektiven Affekten (Ciompi & Endert 2011) – ein hochaktuelles Thema! Man hat beispielsweise versucht, die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen in Deutschland – insbesondere das Abschneiden der rechtspopulistischen AfD – mit bestimmten Gefühlen der Menschen („Wutbürger“) hierzulande zu erklären. Wie sehen Sie das?

Das leuchtet mir durchaus ein. Wie wir in dem Buch zeigen, spielen kollektive emotionale Gestimmtheiten eine sehr große Rolle im politischen Kontext – Wut, vielleicht auch Neid, Frustration. Wie Wellen kommen diese nationalistischen Tendenzen, und sie vergehen auch wieder – sie sind heute insbesondere Ausdruck der riesigen Verunsicherung unserer Gesellschaften, nicht nur wegen des Terrorismus, sondern wegen der ganzen Zeit, in der wir stecken: der Geschwindigkeit der Umwälzungen, der Globalisierung, der Digitalisierung und Computerisierung, der „Roboterisierung“ (lacht). Sie lassen sich verstehen als ein Versuch, die Identität wiederzugewinnen, als ein nationalistischer Reflex: Wo sind unsere Wurzeln, wer sind wir, und wer sind wir nicht?

Mir hat eine Wendung in besagtem Buch gut gefallen, in der Sie hoffnungsvoll auf die anthropologische Fähigkeit des Menschen nach Erleben von Schönheit verweisen: Schönheit als „stimmiges Gleichgewicht zwischen Fühlen und Denken” bzw. „zwischen emotionaler Energie und deren geglückter kognitiver Kanalisierung”. Wie können wir als PsychotherapeutInnen, aber auch als BürgerInnen zu mehr Schönheit in unserer Welt beitragen?

Der Schönheitssinn des Menschen ist schwer fassbar. Ich denke, er ist uns als Stimmigkeit, als Fallen in eine Stimmigkeit eingegeben, als eine Art untergründiger Kompass. Gerade in der Psychotherapie ist das gemeinsame Suchen nach emotional-kognitiver Stimmigkeit das, was wir anstreben: dass wir die Gefühle durch eine kognitive Kanalisierung so beeinflussen, dass ein schönes Gleichgewicht entsteht. Dies kann sich im Kleinen vollziehen, dieses plötzliche „Fallen in die Stimmigkeit“, oder sich in einem Gespräch ereignen – das Gefühl „ja, das geht auf!“. Oder es kann sich im Großen ereignen in der Psychotherapie, dass man das Stimmige findet für sein Leben.

Und als BürgerInnen?

Stimmigkeit würde ich suchen im Gemeinwohl. Ich bin sehr erschreckt darüber, dass in allen politischen Parteien immer nur eine Gruppe von Menschen oder das eigene materielle Interesse gemeint sind, auch wenn vordergründig angegeben wird, es ginge um alle. Doch zur Stimmigkeit gelangen wir erst, wenn wir das Gemeinwohl anstreben, das Wohl aller und nicht nur einzelner Gruppen.

Herr Prof. Ciompi, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.

Die Fragen stellte Prof. Maria Borcsa.

Zur interviewten Person
Zoom Image
(Quelle Foto: Daniel Lüthi)

Prof. Dr. med. emeritus Luc Ciompi


Dr. honoris causa der Universität Lausanne. Geboren 1929. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vormals ärztlicher Direktor der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern/Schweiz. Begründer des Konzepts der Affektlogik zu den Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken sowie der therapeutischen Wohngemeinschaft „Soteria Bern“. Promotor eines integrativ psycho-sozio-biologischen Verständnisses von psychischen Störungen und eines gemeindezentrierten Versorgungssystems zur Krisenintervention und sozialen Wiedereingliederung von psychisch Kranken. Über 250 wissenschaftliche Publikationen, darunter 15 Bücher und über 50 Buchbeiträge. Diverse wissenschaftliche Preise und Ehrungen.

Zum Weiterlesen
  • Ciompi L. Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. 4. unv. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2016

  • Ciompi L, Endert E. Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2011

  • Ciompi L, Hoffmann H, Broccard M, Hrsg. Wie wirkt Soteria? Eine atypische Psychosenbehandlung kritisch durchleuchtet. Bern: Huber; 2001