Klin Padiatr 2018; 230(04): 231-233
DOI: 10.1055/s-0044-100621
Kurzmitteilung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Intrathekale Nursinersen-Therapie bei Kindern mit Spinaler Muskelatrophie und Wirbelsäulendeformitäten

Intrathecal Nursinersen Therapy in Children with Spinal Muscular Atrophy and Spinal Deformities
Heiko M. Lorenz
1   Department of Trauma, Orthopaedic and Plastic Surgery, Pediatric Orthopaedics, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Ingrid Kühnle
2   Pediatric Hematology and Oncology, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Jan Edler
2   Pediatric Hematology and Oncology, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Elke Hobbiebrunken
3   Department of Pediatric Neurology, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Ekkehard Wilichowski
3   Department of Pediatric Neurology, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Konstantinos Tsaknakis
1   Department of Trauma, Orthopaedic and Plastic Surgery, Pediatric Orthopaedics, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Bernd Wilken
4   Department of Pediatric Neurology, Klinikum Kassel GmbH, Kassel
,
Lena Braunschweig
1   Department of Trauma, Orthopaedic and Plastic Surgery, Pediatric Orthopaedics, University Medical Center Göttingen, Göttingen
,
Anna K. Hell
1   Department of Trauma, Orthopaedic and Plastic Surgery, Pediatric Orthopaedics, University Medical Center Göttingen, Göttingen
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Publication Date:
29 January 2018 (online)

Kurzmitteilung

Kinder mit Spinaler Muskelatrophie (SMA) vom Typ 1 (Werdnig-Hoffmann), Typ 2 (Intermediärtyp) und Typ 3 (Kugelberg-Welander) entwickeln in der Mehrzahl schon frühzeitig eine relevante Skoliose (Fujak A et al., BMC Musculoskelet Disord 2013; 14, 283). Aufgrund der eingeschränkten Lungenfunktion ist eine Korsettbehandlung häufig nicht möglich, sodass schon frühzeitig operative Therapien angewandt werden (Hell AK et al., Clin Spine Surg 2017; Lorenz HM et al., JBJS OA 2017) um eine massive Zunahme der Wirbelsäulendeformität aufzuhalten mit negativen Folgen für die Lungenfunktion und die Sitzfähigkeit.

Seit Juni 2017 ist mit Spinraza® (Nursinersen) eine intrathekale Injektionstherapie zur Behandlung von Patienten mit Spinaler Muskelatrophie zugelassen. Das Wirkprinzip ist dabei die Expression von aktiven SMN2 Genkopien, die den Phänotyp bestimmen, zu erhöhen, d. h. ein schwerer Phänotyp kann möglicherweise bei einer relevanten Anzahl von Kindern in einen milderen Phänotyp verwandelt werden.

Das Therapieschema sieht eine Injektion zum Zeitpunkt 1, 14, 28, 63, 180 Tagen vor. Bei erfolgreicher Therapie wird die Behandlung alle 4 Monate fortgesetzt. Aufgrund der noch nicht ganz eindeutigen Datenlage, gerade für Kinder mit SMA Typ 2/3, ist eine genaue Dokumentation und Evaluation der Muskelkraft und Lungenfunktion notwendig. Es erfolgt daher im Rahmen der SMArtCARE-Initiative eine Verlaufsbeobachtung zu jeder neuen Injektionstherapie in Form von Elternbefragungen, Beobachtung der motorischen Meilensteine und Erhebung des Muskelstatus. Darüber hinaus wird zu jedem Zeitpunkt der einheitliche Dokumentationsbogen „Nusinersen“ ausgefüllt. Physiotherapeutisch werden zum Zeitpunkt 1, 63, 180 und dann alle 4 Monate der CHOP-Intend (Children’s Hospital of Philadelphia Infant Test of Neuromuscular Disorders) erfasst. Wenn die Kinder zu mobil für diesen Test sind (CHOP-Intend>50), wird alternativ der HFMSE (Hammersmith Functional Motor Scale Expanded) angewendet. Dieser Test wird primär bei den Kindern mit SMA 2/3 zu den genannten Zeitpunkten durchgeführt. Eine routinemäßige Messung der Lungenfunktion (soweit die Kinder kooperativ genug dafür sind) erfolgt zum Zeitpunkt 1, 180 und dann alle 4 Monate. Die Erfassung unerwünschter Ereignisse unter der Nusinersen Therapie erfolgt fortlaufend. Laborkontrollen sind nicht generell im Protokoll vorgesehen, werden aber in aller Regel zum Zeitpunkt 1 und 63 durchgeführt, dabei werden lediglich Routineparameter erfasst.

Während eine intrathekale Injektion bei Patienten ohne Wirbelsäulendeformität im Allgemeinen kein Problem darstellt, wurde von Patienten mit SMA und ihren Eltern wiederholt von Problemen bei dem Versuch einer intrathekalen Injektion bei Wirbelsäulendeformität und/oder liegenden Wirbelsäulenimplantaten berichtet. Hier bereitet das Finden der korrekten anatomischen Punktionsstelle durch die Verdrehung der Wirbelsäule unter Umständen große Probleme.

Ziel der vorliegenden Kommunikation ist die Vorstellung eines Algorithmus bzw. klinische und praktische Überlegungen im Umgang mit dieser Problematik.

Generell lassen sich bei Patienten mit SMA und Wirbelsäulendeformität drei Situationen unterscheiden

  • Wirbelsäulendeformität ohne vorherige Intervention

  • Wirbelsäulendeformität mit chirurgischer Aufrichtung paravertebral

  • Wirbelsäulendeformität mit chirurgischer Instrumentierung an der Wirbelsäule ohne oder mit Versteifung.

Allen Situationen gemeinsam sind die veränderte Anatomie, die eingeschränkte Beweglichkeit (z. B. bei der Wirbelsäuleninklination für die Punktion) und die eventuell vorliegenden Verknöcherungen der dorsalen Elemente. Dies behindert eine intrathekale Injektion erheblich.

Von Juli bis November 2017 wurden neun Kinder und Jugendliche mit Wirbelsäulendeformität und vorheriger operativer Intervention an der Wirbelsäule mittels intrathekaler Nursinersen-Therapie in unserer Klinik behandelt. Zwei Patienten hatten vorher eine dorsale Wirbelsäulenversteifung mit kompletter Knochenanlagerung zur Fusion vor durchschnittlich 29 Monaten (26 bis 32 Monate) erhalten. Sieben Kinder waren mit bilateralen extern zu expandierenden Implantaten zur Wirbelsäulenaufrichtung versorgt ([Abb. 1]). Das Prinzip ist bei dieser Technik die indirekte Abstützung und graduellen Aufrichtung während des Wachstums durch Implantate neben der Wirbelsäule (Hell AK et al., Clin Spine Surg 2017).

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Abb. 1 a.p.-Röntgenaufnahmen eines 9-jährigen Jungen vor und nach MAGEC Operation.

Um bei diesen Kindern eine erfolgreiche Punktion zu erreichen, wurde ein Vorgehen entsprechend des nachfolgenden Algorithmus ([Abb. 2]) veranlasst. Hierbei spielt besonders die vorherige Planung mittels lokal durchgeführter dreidimensionaler CT-Diagnostik ([Abb. 3]) eine wesentliche Rolle. Grundsätzlich führen wir diese bei allen Patienten mit zu erwartenden Schwierigkeiten wie z. B. nach dorsaler Fusion oder fortgeschrittener Deformität mit Rotation im Vorfeld durch. Andere Kliniken führen sogar jede Punktion CT-gesteuert durch (mündliche Kommunikation), was wir wegen der Strahlenbelastung für ungünstig halten, im Einzelfall aber nötig sein kann.

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Abb. 2 Algorithmus zur Planung der intrathekalen Nursinersen-Behandlung (OP=Operation; LP=Lumbalpunktion; CT=Computertomographie; LWS=Lendenwirbelsäule; WS=Wirbelsäule; Rö=Röntgen; Sono=Sonographie; BV=Bildwandler [Röntgengerät im OP]; VEPTR=Vertical Expandable Prosthetic Titanium Ribs).
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Abb. 3 Dreidimensionale CT-Diagnostik nach dorsaler Spondylodese mit Analyse einer möglichen Punktionsstelle (hier unterhalb der Spondylodese mit schwarzem Pfeil markiert).

Wenn eine Wirbelsäulenversteifung geplant ist, sollte schon im Vorfeld darüber entschieden werden, eine Punktionsstelle zu belassen oder herzustellen. Dies kann intraoperativ leicht durch das Stanzen eines Loches ([Abb. 4]) erfolgen. Die genaue Lokalisation muss im OP Bericht vermerkt werden. Ist die Schaffung einer operativen Punktionsstelle nach dorsaler Spondylodese ([Abb. 2]) geplant, muss nach aktuellem Wissensstand mit den Familien kritisch diskutiert werden, dass gerade bei älteren Patienten der Nutzen der Nursinersen-Therapie noch nicht erwiesen ist und gegen operative Risiken abgewogen werden muss.

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Abb. 4 Intraoperative Schaffung einer Punktionslücke (weiße Pfeile) durch Entfernung von Knochen bei einer Versteifungsoperation; Loch auf Höhe der L3-Schraube.

Mit dem vorgestellten Vorgehen konnte bei allen unseren Patienten zu jedem Zeitpunkt eine erfolgreiche Punktion erreicht werden. Die Prozedur der Punktion dauerte im Durchschnitt 25 bis 30 Min. Bei sieben von neun Patienten konnte eine erfolgreiche Punktion nach 1–2 Versuchen erzielt werden. Hier wurde als Bildgebung 2-mal der Ultraschall eingesetzt. Bei den anderen Kindern erfolgte keine Bildgebung. Bei den beiden Patienten nach Wirbelsäulenversteifung erfolgte die intrathekale Erstgabe im OP in Narkose. Bei dem ersten Patienten waren hier 3, bei dem anderen 20 Punktionsversuche nötig. Als bildgebendes Verfahren wurde ein Bildwandler eingesetzt.

Folgerungen

Auch bei Kindern mit SMA und Wirbelsäulendeformität kann bei guter Planung eine intrathekale Nursinersen-Therapie durchgeführt werden.

Bei neu durchzuführenden Wirbelsäulenversteifungen sollte schon vorausschauend lumbal ein Loch für die spätere intrathekale Applikation der Medikamente geschaffen oder frei von Knochenanlagerungen belassen werden.