Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 1999; 34(5): 324-325
DOI: 10.1055/s-1999-10824
LESERBRIEFE
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Inzidenz der Disposition zur malignen Hyperthermie bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen

F. Wappler, et al., AINS 1998;33:373 - 380Elisabeth  Breucking1 , W.  Mortier2
  • 1Institut für Anästhesie der Klinikum Wuppertal GmbH
  • 2Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Ruhr-Universität Bochum
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Publication Date:
31 December 1999 (online)

Wir freuen uns über die kritische Auseinandersetzung der Leserbriefautorin mit unserer Originalarbeit zur Inzidenz der malignen Hyperthermie (MH) bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen (NME). Die Anmerkungen der Autorin zur Spezifität der MH-Diagnostik, dem klinischen Bild der MH bei NME-Patienten sowie dem Stellenwert molekulargenetischer Studien erfordern allerdings eine kritische Betrachtung.

Der in vitro Kontrakturtest (IVKT) mit Koffein und Halothan ist weltweit der Goldstandard der MH-Diagnostik. Der Koffein-Kontrakturtest wurde 1970 von Kalow und Mitarb. [1] und der Halothan-Kontrakturtest 1971 von Ellis und Mitarb. [2] entwickelt. Nach Gründung der European MH Group (EMHG) im Jahr 1984 wurde für beide Tests ein Untersuchungsprotokoll eingeführt und in den Folgejahren standardisiert [3]. Dieses Protokoll wurde zuletzt 1997 in einer überarbeiteten Version publiziert und hat für alle Europäischen MH-Zentren verbindlichen Charakter [4]. Der IVKT wurde mittlerweile bei vielen Tausend Patienten nach dem EMHG-Protokoll durchgeführt, und in zahlreichen Studien konnten eine hohe Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Diagnostik nachgewiesen werden. So wurde in einer aktuellen Multizenterstudie aller europäischen MH-Labors eine Sensitivität von 99 % und eine Spezifität von 94 % für die MH-Standarddiagnostik berechnet [4].

Die Spezifität des IVKT als physiologisches Untersuchungsverfahren ist von zahlreichen Faktoren abhängig und nicht nur, wie von der Leserbriefautorin vermutet, von den Untersuchungsergebnissen an Proben neuromuskulär erkrankter Patienten. So sind Untersuchungstechnik und -ablauf des IVKT nach dem Europäischen Protokoll zwar für alle MH-Zentren verbindlich festgelegt, jedoch sind nicht alle Einzelheiten der Testdurchführung detailliert vorgeschrieben. Umfragen bei allen europäischen MH-Labors haben beispielsweise ergeben, daß eine große Variabilität in der technischen Ausstattung der Labors besteht. Auch die Indikationsstellung zur MH-Diagnostik und die Auswahl von Kontrollpatienten erbrachten Unterschiede zwischen einzelnen Zentren. Die EMHG hat diese Problematik bereits vor langer Zeit erkannt und sieht daher die weitere Standardisierung und Optimierung der MH-Diagnostik als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an.

Die Frage, ob die Berechnungen für die Sensitivität und Spezifität des IVKT auch bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen (NME) Gültigkeit haben, wird kontrovers diskutiert. In mehreren Publikationen wurde zu diesem Problem Stellung genommen, ohne jedoch eine abschließende Bewertung zu finden. Dieses liegt besonders in der Tatsache begründet, daß die meisten Muskelerkrankungen sehr selten sind und damit größere Untersuchungsreihen oder auch multizentrische Studien mit dem IVKT bei zahlreichen Krankheitsbildern nicht möglich waren. Daher werden anästhesiologische Probleme bei der Betreuung von Patienten mit bestimmten Myopathien zumeist als Fallberichte präsentiert. In der Literatur finden sich jedoch nur wenige Kasuistiken von MH-typischen Narkosekomplikationen bei muskelkranken Patienten, bei denen alle relevanten Daten über die Anamnese, Narkoseführung sowie peri- und postoperativen Befunde (BGA, Temperatur, Creatinkinase, etc.) vorliegen. Darüber hinaus wurde nur in wenigen Fällen die MH-Disposition dieser Patienten mit dem IVKT abgeklärt.

Aber auch Publikationen, in denen über größere Patientenkollektive berichtet wird, weisen eine Vielzahl von Problemen auf, die die Aussagekraft der Untersuchungen zum Teil erheblich einschränken. In einem Großteil dieser Studien wurden die Patienten retrospektiv und über lange Zeiträume untersucht. Beispielhaft sei an dieser Stelle die Studie von Larsen und Mitarb. zitiert [5], in der die Häufigkeit und Schwere anästhesiologischer Komplikationen bei Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne retrospektiv untersucht wurde. Die Autoren präsentierten die Ergebnisse einer Verlaufsbeobachtung bei insgesamt 44 Patienten aus 15 verschiedenen Kliniken über einen Zeitraum von 22 Jahren. Diese Vorgehensweise führte zu einer großen Variabilität von biometrischen Daten, Operationstyp und -dauer sowie Anästhesietechnik. So wurden die operativen Eingriffe sowohl in Lokal- und Regionalanästhesie als auch in Allgemeinanästhesie mit verschiedenen Anästhetika vorgenommen. In 18 Fällen wurden zum Teil schwere Narkosekomplikationen beschrieben, aber in keinem Fall ein IVKT zur Abklärung einer möglichen MH-Disposition durchgeführt.

Darüber hinaus wird die Interpretation der Ergebnisse einiger Studien durch methodische Probleme erschwert. So zeigte sich, daß die für die Untersuchungen verwendeten Muskelpräparate nicht in allen Fällen den von der EMHG geforderten Untersuchungs- und Qualitätskriterien entsprachen. In einer Studie wurden beispielsweise 30 % der Muskelpräparate nicht wie im EMHG-Protokoll festgelegt aus dem M. vastus lateralis entnommen, sondern an anderen Stellen [6]. Die Qualität der Muskelproben wird anhand der Kontraktionskraft bestimmt, die definitionsgemäß vor dem Untersuchungsbeginn mindestens 10 mN betragen muß, in der zitierten Studie wurde jedoch eine Muskelkontraktionskraft von 5 mN als ausreichend angenommen.

Auch in anderen Studien, die zum Beweis einer mangelnden Spezifität des IVKT bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen zitiert wurden, sind wesentliche methodische Probleme festzustellen [7] [8]. So erfolgte die Muskelentnahme in einer der Studien nach Maßgabe der klinischen Symptomatik an unterschiedlichen Stellen (Mm. biceps brachii, deltoideus, intercostalis und tibialis anterior) und unter direkter Infiltration mit Lokalanästhetika. Dieses kann jedoch zu einer Diffusion des Lokalanästhetikums in das Muskelgewebe führen und so die Muskelkontraktionskraft entscheidend reduzieren, daher ist diese Anästhesietechnik kontraindiziert (s. a. [4]). In einer weiteren Studie wurde versucht, Qualitätskriterien für die MH-Diagnostik mit dem IVKT bei NME-Patienten zu entwickeln [8]. Jedoch wurden die Muskelbiopsien auch hier zum Teil unter Infiltrationsanästhesie entnommen, und die Autoren gaben an, daß die Proben nicht den geforderten Qualitätsansprüchen genügten.

Neben diesen methodischen Problemen, sind die Kriterien für die Patientenauswahl in den vorliegenden Studien sehr unterschiedlich. Während in unserer Untersuchung nur Patienten mit spezifischen neuromuskulären Erkrankungen eingeschlossen wurden [9], definierten andere Autoren auch Patienten mit Myalgien, Muskeltonusminderung und erhöhten Creatinkinasewerten als muskelkrank [6] [8]. Eine weiterführende Diagnostik wie Muskelhistologie, Elektromyographie oder bildgebende Verfahren fehlten in diesen Fällen. Die Aussagekraft solcher Studien wird durch dieses Auswahlverfahren deutlich eingeschränkt.

Aus diesen Ausführungen folgt, daß zur Bewertung der Spezifität des IVKT bei neuromuskulär Erkrankten, kontrollierte Studien mit dem IVKT unter strikter Einhaltung des EMHG-Protokolls erfolgen sollten. Darüberhinaus bleibt allerdings festzustellen, daß der IVKT kein molekulargenetisches Untersuchungsverfahren ist und somit auch nicht, wie von der Autorin des Leserbriefes gefordert, eine genetische Determinierung zur MH anzeigen kann.

Die klinische Symptomatik der MH weist eine große Variabilität auf, beschrieben werden neben fulminanten Krisen auch moderate und abortive Verlaufsformen sowie isolierte Anstiege der Creatinkinase und Rhabdomyolysen. Auch bei NME-Patienten wurden diese verschiedenen Formen der MH beobachtet, und zwar nicht nur nach Gabe von Succinylcholin, sondern auch in Kombination als auch alleiniger Gabe von volatilen Inhalationsanästhetika [10] [11] [12] [13]. Die Darstellung von Frau Breucking, daß eine klinische Unterscheidung zwischen einer „wahren” MH-Reaktion muskelgesunder Patienten und einer davon zu unterscheidenden, spezifischen Reaktion von NME-Patienten auf Triggersubstanzen möglich sei, ist daher in dieser Form nicht zutreffend. Auch an dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß die meisten Publikationen zu klinischen MH-Episoden von NME-Patienten wegweisende Informationen vermissen lassen. So wurde in den seltensten Fällen ein IVKT durchgeführt, d. h. das Vorliegen einer MH-Disposition bleibt in diesen Fällen ungeklärt und eine Schlußfolgerung trotz eindeutiger klinischer Symptomatik spekulativ [10].

Ungeklärt ist bis heute auch die Frage, ob und bei welchen NME eine genetisch determinierte Assoziation zur MH besteht. Einige Autoren vertreten hierbei den Standpunkt, daß eine solche Verbindung ausschließlich durch den Nachweis einer genetischen Kopplung, wie z. B. bei der Central Core Disease, geführt werden könne [6] [7]. Dem steht allerdings die Tatsache gegenüber, daß es bislang auch bei neuromuskulär gesunden Patienten mit klinisch gesicherter MH-Anamnese und positiven Resultat im IVKT nicht in jedem Fall möglich ist, eine Genmutation nachzuweisen. Trotzdessen würde niemand ernsthaft die familiäre oder genetische Disposition bei diesen Patienten in Zweifel ziehen wollen. Auch bei Patienten mit NME muß daher angenommen werden, daß der fehlende Nachweis einer genetischen Kopplung mit der MH nicht automatisch den Ausschluß einer Assoziation zwischen beiden Erkrankungen darstellt.

Die Heterogenität der MH ist hinreichend belegt. Im menschlichen Ryanodin-Rezeptorgen auf Chromosom 19 wurden bislang 17 unterschiedliche Punktmutationen in Familien mit MH-Veranlagung nachgewiesen, allerdings kodiert in etwa 50 % der europäischen MH-Familien ein anderer Genort als das Ryanodin-Rezeptorgen für die MH-Disposition [14]. Außerdem wurden weitere Kopplungen zwischen dem MHS-Phänotyp und DNA-Markern auf verschiedenen Regionen anderer Chromosomen gefunden. Weitere genetische Studien sind somit notwendig, um die Kenntnisse über eine mögliche Assoziation mit anderen Erkrankungen zu vervollständigen. Die derzeit vorliegenden Resultate genetischer Studien bieten hierfür jedoch lediglich erste Ansätze, eine umfassende Bewertung oder gar genetische Diagnostik der MH bei NME-Patienten ist auf absehbare Zeit nicht möglich. So haben Hopkins et al. in einem Editorial ausgeführt, daß die Komplexität der Genetik der MH gegenwärtig eine Diagnostik auf dem Boden molekulargenetischer Techniken ausschließt [15].

Zur abschließenden Bewertung der Inzidenz der MH bei den verschiedenen neuromuskulären Erkrankungen sind weitere Untersuchungen unter Beteiligung möglichst zahlreicher MH-Zentren mit dem IVKT, genetischen Untersuchungsmethoden sowie myopathologischen Verfahren notwendig. Solche Multizenterstudien könnten möglicherweise auch zur Lösung der Frage nach der Spezifität des IVKT bei Patienten mit NME beitragen. Weiterhin wäre eine umfassendere Dokumentation von MH-Episoden gerade auch bei NME-Patienten wünschenswert, um das tatsächliche Gefahrenpotential für diese Patientengruppe besser einschätzen zu können. Bis zum Abschluß solcher Studien bleibt es, wie in unserem Artikel dargestellt, bei der Einschätzung, daß Patienten mit bestimmten neuromuskulären Erkrankungen eine erhöhte Inzidenz für die MH-Disposition aufweisen und bei diesen Patienten auf die Gabe von MH-Triggersubstanzen verzichtet werden muß.

Literatur

  • 1 Kalow W, Britt B A, Terraeu M E, Haist C. Metabolic error of muscle metabolism after recovery from malignant hyperthermia.  Lancet. 1970;  ii 895-898
  • 2 Ellis F R, Harriman D GF, Keaney N P, Kyei-Mensah K, Tyrrell J H. Halothane-induced muscle contracture as a cause of hyperpyrexia.  Brit. J. Anaesth.. 1971;  43 721-722
  • 3 Ellis F R. The European Malignant Hyperpyrexia Group: A protocol for the investigation of malignant hyperpyrexia (MH) susceptibility.  Brit. J. Anaesth.. 1984;  56 1267-1269
  • 4 Ørding H, Brancadoro V, Cozzolino S, Ellis F R, Glauber V, Gonano E F, Halsall P J, Hartung E, Heffron J JA, Heytens L, Kozak-Ribbens G, Kress H, Krivosic-Horber R, Lehmann-Horn F, Mortier W, Nivoche Y, Ranklev-Twetman E, Sigurdson S, Snoeck M, Stieglitz P, Tegazzin V, Urwyler A, Wapler F. In vitro contracture test for diagnosis of malignant hyperthermia following the protocol of the European MH Group: Results of testing patients surviving fulminant MH and unrelated low-risk subjects.  Acta Anaesthesiol. Scand.. 1997;  41 955-966
  • 5 Larsen U T, Juhl B, Hein-Sørensen O, Olivarius B F. Complications during anaesthesia in patients with Duchenne‘s muscular dystrophy (a retrospective study).  Can. J. Anaesth.. 1989;  36 418-422
  • 6 Heytens L, Martin J J, van de Kelft E, Bossaert L L. In vitro contracture tests in patients with various neuromuscular diseases.  Brit. J. Anaesth.. 1992;  68 72-75
  • 7 Lehmann-Horn F, Iaizzo P A. Are myotonias and periodic paralyses associated with susceptibility to malignant hyperthermia?.  Brit. J. Anaesth.. 1990;  65 692-697
  • 8 Adnet P J, Krivosic-Horber R M, Krivosic I, Haudecour G, Reyfort H G, Adamantidis M M, Medahoui H. Viability criterion of muscle bundles used in the in vitro contracture test in patients with neuromuscular diseases.  Brit. J. Anaesth.. 1994;  72 93-97
  • 9 Wappler F, Scholz J, von Richthofen V, Fiege M, Köchling A, Matschke J, Winkler G, Schulte am Esch J. Inzidenz der Disposition zur malignen Hyperthermie bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen.  Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther.. 1998;  33 373-380
  • 10 Farrell P T. Anaesthesia-induced rhabdomyolysis causing cardiac arrest: case report and review of anaesthesia and the dystrophinopathies.  Anaesth. Intens. Care. 1994;  22 597-601
  • 11 Boba A. Fatal postanaesthetic complications in two muscular dystrophic patients.  J. Paediatr. Surg.. 1970;  5 71-75
  • 12 Tang T T, Oechler H W, Siker D, Segura A D, Franciosi R A. Anesthesia-induced rhabdomyolysis in infants with unsuspected Duchenne dystrophy.  Acta Paediatr.. 1992;  81 716-719
  • 13 Chalkiadis G A, Branch K G. Cardiac arrest after isoflurane anaesthesia in a patient with Duchenne‘s muscular dystrophy.  Anaesthesia. 1990;  45 22-25
  • 14 Steinfath M, Scholz J, Singh S, Wappler F. Welche Bedeutung haben Genotypveränderungen in der Diagnostik der malignen Hyperthermie?.  Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther.. 1996;  31 1-10
  • 15 Hopkins P M, Halsall P J, Ellis F R. Diagnosing malignant hyperthermia susceptibility.  Anaesthesia. 1994;  49 373-375

Dr. Priv.-Doz. Frank Wappler

Klinik für Anästhesiologie

Universitäts-Krankenhaus Eppendorf

Martinistraße 52

D-20246 Hamburg

Email: wappler@uke.uni-hamburg.de

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