Rofo 1999; 171(Bd.2/3): 181-186
DOI: 10.1055/s-1999-11089
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Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Medizinische Forschung in Deutschland - Gegenwart und künftige Aspekte

Röntgen-Vorlesung beim 80. Deutschen Röntgenkongreß in Wiesbaden am 13. Mai 1999[] W.  Frühwald
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Publication Date:
31 December 1999 (online)

Die Dekade des Gehirns

Mit dem Jahr 1999 geht auch die Dekade des Gehirns zu Ende. In Washington haben die Neurowissenschaftler der USA im Frühjahr 1999 eine stolze Bilanz gezogen. In dieser Dekade, meinte Edward Jones, Präsident der 28 000 Mitglieder zählenden Society for Neuroscience (SEN), habe die Wissenschaft mehr über Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Gehirns gelernt als in der ganzen Geschichte der Menschheit bisher. In der Tat: Wer die Diskurse der Zeit mit den Augen dessen beobachtet, für den Sprache ein Indikator von Bewußtseinsprozessen ist, wird bemerken, daß das Wort „Hirn” (in allen Weltsprachen) zum Leitwort unserer Zeit geworden ist, wie es das Wort „Herz” in der deutschen Literatursprache zur Zeit Goethes gewesen ist. Die Dekade des Gehirns, die gleichzeitig eine Dekade der Maus - der Modelltiere multifaktorieller Krankheiten des Menschen - gewesen ist, wurde in Europa nicht so aufwendig inszeniert wie in den USA. Gleichwohl haben die Neurowissenschaften im weitesten Sinne (Nuklearmedizin, Röntgendiagnostik und andere Spezialisierungsdisziplinen gehören in Teilen ihrer Forschungsinteressen mit dazu) auch in Europa gewaltige Fortschritte gemacht. International hat Europa auf diesem Feld, nach meinem Eindruck, nicht nur Anschluß gehalten, sondern eigenständig zur Entwicklung und zur Ausdifferenzierung des Fachspektrums beigetragen. Daß die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit (auf dieses explodierende Forschungsfeld) bei uns noch immer eher reduziert ist, liegt an der weit verbreiteten Vorstellung, ausgerechnet Wissenschaft könne in einem medialen Zeitalter ohne Werbung und Propaganda überleben, ausgerechnet auf diesem teuren, komplizierten, heiß umkämpften Gebiet spreche ausschließlich „die Sache” für sich. Die „Neuroscientists” in den USA, die wissen, daß sie in der Auseinandersetzung um öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung mit extrem teueren anderen Programmen zu konkurrieren haben (mit der Weltraumforschung, den Klimaforschungs-Programmen, den Tiefseebohr-Programmen, dem Humangenom-Programm, der Hochenergiephysik etc.), haben jährlich eine „Brain Awareness Week” gefeiert, haben Buchhandlungen und Kinos in die Informations- und Werbungskampagne einbezogen, haben sich nicht gescheut, „Hausbesuche” bei ausgewählten und einflußreichen Politikern zu machen. In Kongreß und Senat ist dort eine Lobby für „die Sache des Gehirns” entstanden, in den Forschungsausschüssen ebenso wie in den Finanzkomitees. In den USA wissen inzwischen alle Politiker, auf die es ankommt, daß die rapide wachsende Zahl von Demenzkrankheiten Kosten von rund 400 Milliarden Dollar jährlich verursacht.

Die von Franz Joseph Gall am Ende des 18. Jahrhunderts begründete Phrenologie, welche menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten im Gehirn (nicht im Herzen) lokalisierte, schien den kaiserlichen Behörden in Wien damals so bedrohlich, daß sie die Verbreitung von Galls Lokalisationstheorien (1803) verboten haben und Gall in das der Forschung mehr zugeneigte Paris ausweichen mußte. Über die Sensation, die Galls Vorlesungen auch in dem der Herz-Terminologie ganz hingegebenen Deutschland machten, wissen wir u. a. durch Goethe und die Brüder Eichendorff Bescheid, die diese (sehr teueren) öffentlichen Vorlesungen in Halle im Juli 1805 gehört haben. Gall schien den Behörden nicht nur wegen der revolutionären Neuerung seiner Ideen verdächtig, sondern auch wegen der populären, komödienhaften Art seines Vortrags, die ein großes Publikum anzuziehen und zu unterhalten wußte. „Hielt der berühmte Doctor Gall hier seine erste Vorlesung über die Schädellehre im Kronprinzen”, notierte Joseph von Eichendorff am 8. Juli 1805 in sein Tagebuch. „Auch wir beide (er und sein Bruder Wilhelm) hatten uns ein Entreebillet, welches 1 Louisd'or kostete, gekauft. Das Publicum, welches über die Hälfte aus Studenten bestand, war sehr zahlreich. Was uns aber fast mehr als die Schädellehre interessierte, war, daß wir hier nicht nur alle unsere berühmten Professoren, die fast in summa gegenwärtig waren, sondern auch den unsterblichen Goethe kennen lernten. Sr. Exzellenz der H. v. Goethe, welcher diesen Sommer das Bad in Lauchstädt genoß, logierte nämlich, so lange die Vorlesungen des Galls währten, hier beim Prof. Wolff, und besuchte täglich das Schädelcollegium (von 6 bis 8 abends)...” Erst in der Dekade des Gehirns (knapp 200 Jahre später) sind die Lokalisationsprobleme zumindest ansatzweise gelöst worden, weil unsere bildgebenden Verfahren, zum Beispiel die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), zwar nicht die Inhalte von Gedanken lesen, wohl aber deren Struktur in der Aktivierung unterschiedlicher Hirnareale sichtbar machen können. Die PET-Maschinen sind aus der Grundlagenforschung nicht mehr wegzudenken und dort ebenso hilfreich wie bei der Schlaganfall-Diagnostik und anderen Diagnoseverfahren. Die noch von dem Philosophen Hans Jonas in der aufgeregten Diskussion um das Hirntodkriterium zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ersehnte und erwartete „subcerebrale neuronale Integration” des menschlichen Körpers ist kein wissenschaftlicher Diskussionsstoff mehr, seit sich die Neurologie - wie Thomas Brandt sagte - von einem Fach der schwierigen und interessanten Diagnosen zu einem Fach behandelbarer Erkrankungen des Nervensystems gewandelt hat.

1 Der Abdruck des Vortragsmanuskripts erfolgt mit besonderer Erlaubnis des Autors. Das Copyright verbleibt bei Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Frühwald.

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1 Der Abdruck des Vortragsmanuskripts erfolgt mit besonderer Erlaubnis des Autors. Das Copyright verbleibt bei Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Frühwald.

Dr. Professor Wolfgang Frühwald

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