Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000; 35(7): 421-422
DOI: 10.1055/s-2000-5947
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sicherheit in der Anästhesie - von der „culture of blame” zur Sicherheitskultur

G. Hempelmann, L. Quinzio
  • Abteilung Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin, Justus-Liebig-Universität, Gießen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Die Sicherheit, die wir in der Anästhesie in den letzten Jahren für unsere Patienten erreicht haben, hat sich, wie allgemein anerkannt wird, auf einem sehr hohen Niveau etabliert. Das Risiko, bei einer Narkose schweren Schaden zu nehmen oder zu sterben, ist so gering wie noch nie. Aber wer würde trotz aller Statistik nicht zustimmen, dass natürlich jeder schicksalhafte Einzelfall, der durch ein vermeidbares Ereignis - einen Fehler - zustande kommt, ein tragischer Fall zuviel ist. Darüber hinaus bedeutet Sicherheit für unsere Patienten mehr als die reine Abwesenheit von Fehlern. Auch Ansätze zur Identifikation, Evaluation und Minimierung von Risiken verbunden mit dem Bewusstsein, dass das Gesundheitswesen an sich ein komplexes und per se risikoreiches Berufsfeld ist, spielen bei der Betrachtung von Fehlern eine wichtige Rolle.

In unserem Fachgebiet führen wir seit mehreren Jahren erfolgreich Maßnahmen zur Qualitätssicherung durch und erheben eine Reihe von Parametern wie anästhesiologische Verlaufsbeobachtungen, postoperatives Outcome oder auch die Patientenzufriedenheit, um die Qualität unseres Behandlungsergebnisses zu erfassen. Wir bemühen uns demnach, die Qualität zu steigern, indem wir quantifizieren sowie verifizieren und versuchen so, Faktoren, die das Ergebnis verschlechtern, zu identifizieren und auszuschalten. Unter diesem Aspekt der Sicherheit können wir in zunehmendem Maße auch einem Vergleich mit anderen Hoch-Risiko-Berufsfeldern wie z. B. der Luftfahrtindustrie standhalten [5]. Anders sieht es jedoch beim Fehler- und Risikomanagement aus. Denn in der Medizin herrscht stärker als in anderen Berufsgruppen die Erwartung von Perfektion. Aufgetretene Fehler werden als Zeichen von Unvorsichtigkeit oder von Inkompetenz angesehen; es herrscht nach wie vor eine „culture of blame”, d. h. die häufige Reaktion auf einen Fehler ist das Finden und Verantwortlichmachen eines „Schuldigen” [2]. Die meisten Fehler, auch im medizinischen Umfeld, entstehen jedoch nach einer Metaanalyse des Institutes of Medicine (IOM) nicht aufgrund eines einzelnen menschlichen Versagens, sondern sind das Ergebnis einer Kumulation mehrerer latent vorhandener struktureller Fehler.

Das IOM, ein unabhängiges nationales Forschungsinstitut der USA, erregte mit seinem Report „To err is human: building a safer health system” am Anfang dieses Jahres großes öffentliches Aufsehen [6]. Die Autoren, das Committee on quality of health care in America, stellten unter anderem fest, dass vermeidbare medizinische Fehler in den USA als Todesursache an 8. Stelle liegen, und es damit wahrscheinlicher ist, an einem Behandlungsfehler zu sterben als an Autounfällen, Brustkrebs oder an AIDS. Diese alarmierende Situation mache es notwendig, so der Report, dass Fehleranalysen und Fehlermanagement als eine systemübergreifende Aufgabe angesehen werden. Dies ließe sich z. B. durch ein Register, in dem Fehler national erfasst werden, durch die Erfassung von Beinahe-Fehlern, durch das Erstellen von Standards und Richtlinien für Fehler- und Risikomanagement und durch die Festschreibung der Patientensicherheit als wichtiges Ziel des Gesundheitswesens erreichen.

Die Anaesthesiologie wird in dem Report positiv als diejenige medizinische Disziplin hervorgehoben, die durch Standardisierung ihrer Ausrüstung, durch gezielte Trainingsmaßnahmen sowie die Entwicklung von Richtlinien und Standards die Patientensicherheit in einem kollektiven Bemühen deutlich verbessert hat und es dadurch erreicht habe, die Letalität von 2/10.000 Anfang der achtziger Jahre auf eins zu 200.000 - 300.000 zu senken [6]. Jedoch existieren auch erschreckende Befunde zu Fehlern auf Intensivstationen: von über 1000 untersuchten Patienten erlebten fast die Hälfte (45 %) „adverse event”, die hier als Situationen, in denen eine falsche Entscheidung getroffen wurde, obwohl eine günstigere Alternative zur Verfügung stand, definiert werden. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen „adverse event” stieg für jeden Tag des Aufenthalts um 6 % [1], d. h. es besteht durchaus weiterer Handlungsbedarf.

Auch wenn hier unser Fachgebiet zum Teil lobend als eines derjenigen erwähnt wird, welches es innerhalb der letzten Jahrzehnte erreicht hat, durch Ausbildung, hohen Stand der Technik und Dokumentation das Risiko für den Patienten international vergleichbar zu senken, gelten die hier vorgestellten Überlegungen zur Entwicklung von Sicherheitsstrukturen innerhalb der Medizin auch für uns. Das öffentliche Interesse wird in Zukunft nachvollziehbare und transparente Strukturen für den Patienten auch in Deutschland fordern. Die Sicherheit im Gesundheitssystem wird eine zunehmende öffentliche Wahrnehmung erfahren. Eine Stärkung des Patientenschutzes und eine größere Haftung im Behandlungsfehlerfall werden politisch schon lange gefordert und sind von der Bundesgesundheitsministerin erneut Ende letzten Jahres angekündigt worden [4]. In den USA sollen sogar, so empfiehlt die Studie, die Fehler durch drastische „marktwirtschaftliche” Methoden vermindert werden. Die Kosten, die durch Fehler entstehen, sollen für das Gesundheitssystem so hoch werden, dass man sich Fehler nicht mehr „leisten” kann und dass es sich lohnt, in Strategien zur Fehlervermeidung und zum Fehlermanagement zu investieren. Was können und was müssen wir vor diesem Hintergrund in der Anästhesiologie also weiterhin tun, um unsere hohe Patientensicherheit zu erhalten und sie noch weiter zu verbessern?

Einige Anstrengungen werden bereits unternommen. Wir reagieren auf die Tatsache, dass die medizinische Dokumentation eine zentrale Bedeutung für die ärztliche Qualitätssicherung und den nachvollziehbaren Ablauf des Behandlungsverlaufes hat. So kann uns eine computergestützte Dokumentation zukünftig auch den Vergleich von seltenen Fällen über Abteilungsgrenzen hinweg ermöglichen und kann uns bei der Erhebung von Risikoprädiktoren eine Schätzung eines veränderten individuellen Risikos erlauben. Die Etablierung von Report-Systemen zur anonymen Erhebung von Zwischenfällen, wie es seit mehreren Jahren in Australien (Australian incident monitoring study) [11] und auch in der Schweiz via Internet praktiziert wird [8], kann eine entscheidende Hilfe bei der Aufdeckung von Fehlern bieten. Durch den mehrjährigen Aufbau einer Datenbank sind heute in Australien bereits ausreichende Fallzahlen für Untersuchungen nach verschiedenen Fachbereichen und Narkosetechniken möglich [7].

Die Fehleranalyse in der Anästhesiologie erfolgt demnach im Vergleich zu anderen Disziplinen auf einem relativ hohen Qualitätsniveau, jedoch sollten neben den aktiven Fehlern, die leicht erfasst werden können, verstärkt latente Fehler, die in der Struktur des Systems begründet sind, in den Focus der Aufmerksamkeit rücken. Statt Schuldige zu suchen muss eine Sicherheitskultur entwickelt werden, denn das verstärkte Bewusstsein für die Fehleranfälligkeit eines Systems kann die Aufdeckung von strukturellen Fehlerquellen erleichtern [9].

Zusätzlich zur Fehleridentifikation und Fehleranalyse müssen aber in Zukunft verstärkt auch Aspekte des effektiven Risikomanagements im Mittelpunkt stehen. Was sind potentielle Punkte im Routineablauf in unserer Abteilung, die den Patienten schädigen könnten? Diese Frage kann in Zukunft durch unabhängige Experten, die Krankenhäuser oder einzelne Abteilungen auf Schwachstellen hin untersuchen, erforscht werden, um im Rahmen eines Risikomanagements potentielle Fehlerquellen aufzudecken [10]. Vieles wird auf diesem Gebiet schon getan, jedoch könnte die Situation durch klare offengelegte Strukturen, intern und extern verfügbare Handlungsalgorithmen sowie dokumentierte Abteilungsstandards verbessert werden. Für jeden Anästhesisten via Internet und Intranet zugängliche Empfehlungen analog den „guidelines for response to an adverse anesthesia event” [3] in den USA könnten ebenfalls das Fehlermanagement transparenter machen.

Nicht zuletzt müssen wir durch eine stetige Anpassung und Verbesserung der Aus- und Weiterbildung den Wissensstand und die individuellen Fähigkeiten zur Fehlerbehandlung verbessern. Vielleicht kann hier in einigen Jahren durch ein an die ermittelten Risikostrukturen angepasstes Training, z. B. mit einem Anästhesie-Simulator, eine Ausbildungsmethode etabliert werden. Weiterhin könnten einheitliche Informationen zu anästhesiologischen Verfahren und Risiken und eine einheitliche Präsentation im Internet für die Patienten eine bessere Transparenz bieten und so zur Risikoaufklärung dienen. Auch in diesen Punkten gilt: Nur wenn wir die Entwicklungen unseres Fachgebietes weiterhin selbst steuern, werden wir die Richtung mitbestimmen. Mit Sicherheit!

Literatur

  • 1 Andrews L B, Stocking C, Krizek T. An alternative strategy for studying adverse events in medical care.  Lancet. 1997;  349 309-313
  • 2 Bogner M S. Human errors in medicine. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates 1994
  • 3 Cooper J B, Cullen D J, Eichhorn J H, Philip J H, Holzmann R S. Administrative guidelines for response to an adverse anesthesia event.  J. Clin. Anesth. verfügbar unter http://www.gasnet.org/apsf/clinical/adverse/adverse.html. 1993;  5 79
  • 4 Fischer A. Patientenschutz in Deutschland - Bestandsaufnahme und Perspektiven. Rede der Bundesgesundheitsministerin am 07. 12. 1999. http://www.bmgesundheit.de/reden/patient/ patient.htm
  • 5 Green R. The psychology of human error.  European Journal of Anaesthesiology. 1999;  16 148-155
  • 6 Kohn L T, Corrigan J M, Donaldson M. To err is human: building a safer health system. Committee on quality of health care in America, Institute of Medicine; Washington: National Academy Press. ISBN 0-309-06837-1. http://www.nap.edu/books/0309068371/html/ 1999
  • 7 Sinclair M, Simmons, Cyna A. Incidents in obstetric anaesthesia and analgesia: an analysis of 5000 AIMS reports.  Anaesth Intensive Care. 1999;  27 275-281
  • 8 Staender S, Davies J, Helmreich B, Sexton B, Kaufmann M. The anaesthesia critical incident reporting system: an experience based database.  Int. J. Med. Inf. http://www.medana.unibas.ch/eng/cirs/descript.htm. 1997;  47 87-90
  • 9 Reason J. Human Error. New York: Cambridge U. 1990
  • 10 Ulsenheimer K, Oehlert G. Risk-Management.  Gynäkologie. 1999;  32 919-926
  • 11 Webb R K, Currie M, Morgan C A, Williamson J A, Mackay P, Russell W J, Runciman W B. The Australian incident monitoring study: an analysis of 2000 incident reports.  Anaesth Intensive Care. 1993;  21 520-528

Prof. Dr. Dr. h.c. G. Hempelmann

Abt. Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin Klinikum der Justus-Liebig-Universität

Rudolf-Buchheim-Straße 7

35385 Gießen

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