Psychiatr Prax 2002; 29(1): 34-40
DOI: 10.1055/s-2002-19672
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Über die Notwendigkeit zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen für die Gruppe der chronisch mehrfachbeeinträchtigten Alkoholabhängigen

On the Necessity of Improving the Supply Network for Chronic Alcoholics with Multiple ImpairmentsRalf  Hertrich1 , Sascha  Lutz2
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Kreiskrankenhaus Heidenheim
  • 2Psychosoziale Beratungs- und ambulante Behandlungsstelle der Diakonie im Ostalbkreis, Aalen
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Publication Date:
22 January 2002 (online)

Zusammenfassung

Anliegen: Die Angebotsstruktur für chronisch mehrfachbeeinträchtigte Alkoholabhängige im lokalen Versorgungsgebiet der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Landkreises Heidenheim zu beschreiben und mit der Versorgung auf Bundes- und Landesebene zu vergleichen. In diesem Kontext sollen sowohl potenzielle Mängellagen aufgedeckt als auch in Ergänzung eine Bedarfsanalyse bei der Zielgruppe durchgeführt werden. Dies mit dem Ziel Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Methode: Mit Hilfe eines mehrperspektivischen qualitativen Untersuchungsverfahrens wurden Befragungen von 19 Experten aus insgesamt 15 Einrichtungen, Diensten und Verbänden des lokalen Versorgungsgebietes sowie halbstrukturierte Interviews mit 16 Patienten im Rahmen der „motivierenden Entzugsbehandlung” durchgeführt. Im Sinne einer intendierten Triangulation wurden zusätzlich 14 Patienten im rückfallprophylaktischen Gruppensetting befragt. Ergebnisse: In Bezug auf die Gruppe der chronisch mehrfachbeeinträchtigten Alkoholabhängigen besteht ein Versorgungsdefizit aufgrund unzureichender Vernetzung vorhandener Institutionen. In diesem für die lokale Angebotsstruktur zentralen Ergebnis ist eine Analogie zu bestehenden zielgruppenspezifischen Untersuchungen auf Landes- und Bundesebene evident. Eine multiprofessionelle Koordinierungs- und Kooperationsstelle existiert nicht, wobei diesbezüglich insbesondere dem Mangel an einer ambulanten aufsuchenden bzw. teilstationären Betreuung der Betroffenen Bedeutung zukommt. Darüber hinaus lässt sich eine inadäquate Situation im Bereich der Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung konstatieren. Schlussfolgerungen: Die Implementation eines „Case-Management”-Modells aus den bestehenden Angebotsstrukturen ist anzustreben. Betroffenen mit höherem Betreuungsbedarf sollte zusätzlich die Option zur teilstationären Betreuung eingeräumt werden. In diesem Kontext bedarf es der Entwicklung themenbezogener Qualifikations- und Fortbildungsmaßnahmen v. a. im Bereich der ambulanten medizinischen Primärversorgung. Langfristig besteht die Notwendigkeit zur Realisierung eines Freizeittreffs für Suchtkranke unter Einbindung der ehrenamtlichen Suchtkrankenhilfe.

Abstract

Objectives: Description of care offers for chronic multiple handicapped dependents on alcohol in the service area of the clinic for psychiatry and psychotherapy of the district of Heidenheim and comparison with the situation on the supra-regional and national level („Länder und Bund”). The present study aims at drawing attention to potential deficiencies as well as analysing the needs of the target group in order to suggest measures for improvement. Methods: Using a multi-perspective qualitative approach, the authors conducted interviews with experts from 15 institutions, services and associations of the area in question as well as semi-structured interviews with 16 patients undergoing qualified detoxification treatment. In addition, 14 patients being part of a group trying to prevent relapse into alcohol were interviewed to achieve triangulation. Results: With regard to the group of chronic alcoholics with multiple impairements care offers are deficient by reason of insufficient communication within the network of existing institutions, a lack that was also stated by studies carried out on a supra-regional and national level. There is no multi-professional office for coordination and cooperation, whose primary aim should be remedial measures will regard to the lack of home- and day-care treatment e.g. in hospital. Moreover, an inadequate situation as to organizing a patient's day and his leisure activities can be stated. Conclusions: A case-management-model should be implemented into existing care structures. Patients in need of additional support ought to be given the possibility of day-care treatment. In this context the development of topic-centered qualification- and training programs is required, especially in the field of medical care. In the long run it will be necessary to realize a meeting place for dependents, run both by professionals and volunteers.

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1 Die Experten verstehen unter den Begrifflichkeiten „betreutes Wohnen” bzw. „aufsuchender Dienst” ein Angebot im Rahmen einer „Geh-Struktur”, d.h. die Betroffenen sollen im eigenen Wohnraum, in Sozialwohnungen oder aber auch z.B. in Obdachlosenunterkünften ambulant betreut werden. „Betreutes Wohnen” darf keinesfalls mit einer stationären Betreuung der CMA-Klienten innerhalb einer Einrichtung verwechselt werden.

Ralf Hertrich

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Kreiskrankenhaus Heidenheim

Schlosshaustraße 100

89522 Heidenheim

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