Psychother Psychosom Med Psychol 2002; 52(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-2002-20185
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychotherapie und Psychosomatik - eine Einheit?

Psychotherapy and Psychosomatic - A Unitary Field?Hans-Christian  Deter
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Publication Date:
18 February 2002 (online)

Lässt sich das Verhältnis von Psychotherapie und Psychosomatik näher beschreiben? Jeder Versuch, Differenzierungen vorzunehmen, stößt schnell an Grenzen, die vor allem durch „Facharzt Claims” aber auch durch „Methoden-Claims” gezogen werden. Der Facharzt „psychotherapeutische Medizin”, der möglicherweise bald in „Psychotherapie und Psychosomatik” umgewandelt wird, vermittelt, dass er das gesamte Gebiet vertritt, andere Fachärzte (Allgemeinmediziner, Gynäkologen, Hautärzte) behaupten Ähnliches für ihren jeweiligen Bereich. Jede Psychotherapieschule (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, systemische Therapie etc.) und auch Fachärzte für Psychiatrie nehmen für sich in Anspruch, Patienten mit psychosomatischen Symptomen effektiv behandeln zu können. Dazu findet sich der Anspruch einer integrierten Psychosomatik bzw. einer holistischen oder integrierten Medizin, wie ihn Thure von Uexküll vertritt. Psychosomatik ein heterogenes Feld, von dem viele behaupten, es sei sehr wichtig bzw. könnte wichtig werden.

Nach der 50. Arbeitstagung des DKPM in Berlin ist nun ein Band mit dem Titel „Psychosomatik am Beginn des 21. Jahrhunderts” im Huber-Verlag erschienen, der psychosomatische Medizin in Deutschland reflektiert. Wo stehen wir heute nach einer langen vergleichsweise erfolgreichen Entwicklung, wie ist das Verhältnis der einzelnen psychosozialen Fächer untereinander und das Verhältnis zu anderen medizinischen Nachbardisziplinen? Ist die Situation in Deutschland mit anderen europäischen Länder, mit den USA, Kanada oder Australien vergleichbar oder entwickelt sich ein neuer deutscher Sonderweg in diesem Bereich? Angeregt durch die Arbeit von Johannes Siegrist, der die Psychosomatiker als zu individuumzentriert sieht und die Gedanken von Ulrik Malt, der die deutsche Entwicklung in der Psychosomatik im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stark psychotherapieorientiert und hier speziell auf die tiefenpsychologischen Schulen konzentriert sieht, erscheint es interessant diese Themen einer eingehenderen Analyse zu unterziehen. Ist die deutsche Psychosomatik, die so gern die Engelsche (eigentlich v. Weizsäckersche) Systematik der biopsychosozialen Medizin beschwört zu „psychotherapielastig” geworden oder ist dieser Weg unter Versorgungsaspekten eher konsequent, d. h., sind wir in einer Vorreiterrolle, die beispielhaft für andere Länder sein könnte?

In beiden Fällen erscheint die Kommunikation mit dem europäischen oder außereuropäischem Ausland essenziell, um eigene Erfahrungen entweder dorthin zu kommunizieren oder aber an der Entwicklung anderer Länder zu partizipieren. Während das für die Psychotherapieforschung und behaviorale Medizin zu gelingen scheint, bleibt die deutsche Psychosomatik bisher den Beweis dafür schuldig, (auch wenn „der Uexküll” inzwischen auf Englisch erschienen ist).

Ambitionierte Vertreter der Psychosomatik, die sich international betätigen wollen, können das auf den Kongressen der Society of Psychotherapy Research (SPR), auf der European Conference on Psychomatic Research (ECPR) oder dem World Congress of Psychosomatic Medicine (WCPM) tun. Die europäischen Consultations-Liaisons-Psychiater haben die European Academy of Consultation Liaison Psychiatry and Psychosomatics (EACLPP) gegründet, die ähnlich wie die amerikanische „Academy of Psychosomatic Medicine” mit der Consultations-Liaison-Psychiatry verbunden ist. Der International Congress of Behavioral Medicine (ICBM), wurde von Psychologen, Medizinsoziologen, Epidemiologen und Public-Health-Forschern initiiert. Die Übersetzung von Behavioral Medicine in Verhaltensmedizin (womit in Deutschland eine an der Lerntheorie ausgerichtete Psychotherapierichtung, die in der Medizin angewandt wird, gemeint ist) dürfte unzutreffend sein. Ich würde Behavioral Medicine lieber als Medizin bezeichnen, in der physiologische (körperliche), psychische (kognitive und emotionale), Verhaltens- und soziologische Aspekte untersucht und behandelt werden und auf eine gesundheitspolitische Perspektive von Krankheit und Gesundheit Wert gelegt wird. Der Unterschied zum biopsychosozialen Modell von G. Engel, das die amerikanische psychosomatische Gesellschaft (APS) mittlerweile in ihrem Namen führt, dürfte nicht besonders groß sein.

Eine solche Forschungs- und Versorgungsperspektive, die in dem o. g. Buch anhand differenzierter Beiträge ausgearbeitet wird, wird auch für Deutschland Bedeutung haben. Aus der hiesigen Entwicklung lässt sich zeigen, dass durch eine geänderte Approbationsordnung, die Einführung von Psychotherapie als Kassenleistung, die Einrichtung eines Facharztes für Psychotherapeutische Medizin und der Aufbau zahlreicher stationärer akuter und rehabilitativer Einrichtungen ein sinnvolles Versorgungsnetz entstanden ist, das auch beispielhaft für andere Länder sein dürfte. Psychosomatische Patienten, auch aus der Unterschicht, werden nirgends so gut ambulant und stationär wie in Deutschland versorgt, wie Paul Janssen anlässlich der Diskussion in Berlin sinngemäß bemerkte. Das hat Auswirkungen für die psychosomatische Medizin und ihre Teilbereiche, insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern. Der Leser des o. g. Buches erkennt aber auch, Psychotherapie und noch weniger Psychiatrie allein ist „Psychosomatische (biopsychosoziale, behaviorale) Medizin”. Hierzu bedarf es der Einbeziehung vieler Methoden, um das gesamte Panorama dieses Bereiches darzustellen und zu erarbeiten. Psychosomatische Medizin wird dann zum Sammelbecken und Kristallisationspunkt von Berufsgruppen, speziell interessierten Diagnostikern, Behandlern und Forschern.

Die Konzentration auf den Aufbau von Versorgungsstrukturen und die Behandlung einzelner Patienten hat im internationalen Vergleich dazu geführt, dass die psychosomatische Grundlagenforschung bei uns vernachlässigt wurde (epidemiologisch, psychophysiologische, psychoendokrinologische und psychoneuroimmunologische Drittmittelforschung gibt es in Deutschland nur an einigen Zentren. Es bleibt im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA, Schweden oder Großbritannien ein erheblicher Nachholbedarf).

Dagegen ist die klinische, psychosomatische Anwendungsforschung zahlenmäßig herausragend, aber nicht immer auf hohem Niveau. Forschung, die nicht auf Psychotherapiepatienten im engeren Sinn fokussiert, sondern klinische psychosomatische Fragen aus den Fachgebieten aufgreift und langjährig in Drittmittelprojekten verfolgt, ist extrem selten, was oft an der eher klinischen Grundorientierung der Universitätsabteilungen liegt.

Andererseits gibt es auch selten Drittmittelgeldgeber, die diesen Bereich (wie z. B. in den USA das National Institut for Mental Health [NIMH] systematisch und langfristig unterstützen [eine Ausnahme bilden die Rehawissenschaften und neue Projekte der Europäischen Union]; nach Auskunft des früheren DFG-Präsidenten Frühwald hat die DFG 2,7 Milliarden DM/Jahr, das NIH aber 17 Milliarden Dollar/Jahr für alle Arten der Forschung zur Verfügung).

Die Ätiopathogeneseforschung an Risikoklientel und die längerfristige Verlaufsforschung scheint manchen Kollegen auch aus theoretischen Gründen (nach dem Rückzug auf das Gebiet der Krankheitsbewältigung bei chronisch rezidivierenden internistischen und anderen Erkrankungen bzw. der „Diskreditierung” funktioneller Syndrome als „Somatisierungsstörungen”, d. h. als Epiphänomen einer „psychiatrischen Erkrankung”) nicht sinnvoll. Erfolgreich in dieser Art von Forschung waren in den letzten Jahren Arbeitsgruppen, die interdisziplinär (internistisch, psychologisch, soziologisch, psychiatrisch) an großen Versorgungszentren Patienten rekrutierten, untersuchten und im Verlauf verfolgten. Dieses scheint in Deutschland eher die Ausnahme, auch wenn es einige ermutigende Beispiele gibt.

Durch die Konzentration auf die Versorgungs-, insbesondere die Psychotherapieforschung von psychosomatischen Patienten, hat sich die Offenheit für die sozialen Entstehungsbedingungen psychischer, psychosomatischer und körperlicher Erkrankungen in Deutschland vermindert. Aspekte der Partnerschaft-, Familie- bzw. der sozialen Unterstützung werden berücksichtigt, Prophylaxe, Risikominimierung, Arbeitslosigkeit, Armut oder andere gesellschaftliche Phänomene bleiben häufig ausgeblendet. Nur einzelne Arbeitsgruppen beteiligten sich an den Public-Health-Aktivitäten oder übergeordneten gesundheitspolitischen Entscheidungen (meistens wenn es um berufs- oder standespolitische Fragen geht). Eine allgemeine Gesellschaftskritik, wie sie Mitscherlich formulierte oder gesundheitspolitische Vorschläge, wie sie in Australien von Psychosomatikern gemacht werden (und von Politikern in Programmen bezüglich koronarer Herzerkrankung, Karzinomen, Unfällen, psychischen Krankheiten, Diabetes und Asthma umgesetzt werden), stehen in Deutschland erst am Beginn, wie die Arbeit an den Leitlinien oder Disease-Management-Programmen. (Die Überlegung, ob die Psychosomatik ihre somatische Dimension an die Innere Medizin, Allgemeinmedizin oder spezielle medizinische Fächer abgegeben hat, wäre ein anderes Thema.)

Die Frage bleibt: Was erreichen wir, wenn wir uns von einem biopsychosozialen oder einem im o. g. Sinn behavioralen Medizinmodell entfernen und uns auf die Psychotherapie im engeren Sinn konzentrieren, bei der wir mit Psychiatern, Psychologen und bald auch Sozialpädagogen und Sozialarbeitern konkurrieren werden? Das Schild des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin in Psychotherapie und Psychosomatik umzuwandeln, dürfte dem Anliegen einer psychosomatischen oder einer integrierten Medizin nicht gerecht werden. Das Selbstverständnis der Psychosomatik, individuelle klinische Grundlagen und globale Fragen grundsätzlich an jedem Punkt wissenschaftlich mit einzubeziehen und arbeitsteilig vor Ort mit Psychotherapeuten, Medizinpsychologen, Medizinsoziologen, Psychiatern, Kindern- und Jugendpsychiatern und anderen klinischen Fächern zu bearbeiten, erscheint ohne Alternative.

Hans-Christian Deter, Berlin

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