Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2002; 37: 1-2
DOI: 10.1055/s-2002-25155
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Heparin-induzierte Thrombozytopenie vom Typ II

Heparine-Induced Thrombocytopenia Type IIA.  Greinacher
  • 1Institut für Immunologie und Transfusionsmedizin, Klinikum der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald
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Publication Date:
17 April 2002 (online)

Die Heparin-induzierte Thrombozytopenie vom Typ II (HIT II) ist die wohl schwerste Nebenwirkung bei prophylaktischer und therapeutischer Gabe von Heparin. Sie kann bei Verwendung von unfraktioniertem Heparin bei bis zu drei Prozent der Patienten auftreten und manifestiert sich üblicherweise zwischen dem 5. und 14., seltener bis zum 21. Tag nach der erstmaligen Heparin-Applikation. Früher war die HIT II wegen ihres nur unzureichenden Bekanntheitsgrades und der demzufolge oft zu späten Diagnosestellung und Therapie mit einer erschreckend hohen Morbidität und Mortalität assoziiert. In den letzten Jahren hat sich der Kenntnisstand bei dieser immunologisch vermittelten Erkrankung jedoch deutlich verbessert; die Häufigkeit schwerer Folgekomplikationen hat daher deutlich abgenommen. Dank des zunehmenden Einsatzes niedermolekularer Heparine, die mit einem wesentlich geringeren Risiko für die Auslösung einer HIT II behaftet sind, ist auch von einer sinkenden Inzidenz dieser heparinbedingten Nebenwirkung auszugehen.

In der Vergangenheit wurden zahlreiche Antikoagulanzien mit unterschiedlichem Erfolg bei Patienten mit HIT II erprobt. Erst seit wenigen Jahren stehen mit Lepirudin und Danaparoid-Natrium (Orgaran®) zwei zugelassene Substanzen für die alternative Antikoagulation bei akuter und anamnestisch bekannter HIT II zur Verfügung, die die Prognose der betroffenen Patienten deutlich verbesserten. Eine prospektive randomisierte Studie zum Vergleich der Effektivität und Sicherheit beider Präparate existiert bislang nicht. Auf der Basis retrospektiver Daten ist jedoch von einer etwa ebenbürtigen Wirksamkeit der zwei Antikoagulanzien in therapeutischer Dosierung bei der Verhinderung neuer thromboembolischer Komplikationen, Amputationen und Todesfälle von Patienten mit HIT II auszugehen. Doch scheint das Blutungsrisiko bei Gabe von Lepirudin höher zu sein als mit Danaparoid-Natrium. Die klinischen Erfahrungen mit beiden Präparaten haben darüber hinaus unterschiedliche differenzialtherapeutische Indikationen für spezielle Patientenkollektive aufgezeigt, die auch während eines Experten-Workshops zur HIT II diskutiert wurden, der mit freundlicher Unterstützung der Thiemann Arzneimittel GmbH am 17. und 18. November 2001 in Bremen stattfand. Weitere Themen des Workshops waren die Pathophysiologie, Epidemiologie und Labordiagnostik der HIT II und das therapeutische Vorgehen bei intensivpflichtigen und niereninsuffizienten HIT-II-Patienten.

In einem eigenen Vortrag wurden die immunologische Pathogenese der HIT II, ihre in verschiedenen Patientenkollektiven stark variierende Inzidenz sowie die Diagnose und Differenzialdiagnose dieser heparinbedingten Nebenwirkung abgehandelt. Außerdem wurden die Ergebnisse der bereits erwähnten retrospektiven Vergleichsstudie mit Danaparoid-Natrium versus Lepirudin präsentiert. Die Daten dieser Studie sprechen dafür, dass die empfohlene prophylaktische Dosierung von Danaparoid-Natrium vermutlich zu niedrig ist und dass auch Patienten mit isolierter Thrombozytopenie das Antikoagulans in therapeutischer Dosis erhalten sollten.

Job Harenberg, Mannheim, referierte über die Häufigkeit und die klinische Bedeutung von anti-rHirudin-Antikörpern im Verlauf einer Therapie mit rekombinantem Hirudin. Antikörper-bedingte allergische Reaktionen scheinen nach den bisherigen Erfahrungen sehr selten zu sein. Die Antikörper können jedoch bei einzelnen Patienten zu einer Verstärkung, seltener zu einer Abschwächung des antikoagulatorischen Effektes von rekombinantem Hirudin führen. Empfohlen wird daher die regelmäßige Überwachung der Therapie, um die aktivierte partielle Thromboplastin-Zeit stabil zu halten. Bei Patienten mit anti-rHirudin-Antikörpern kann alternativ Danaparoid-Natrium zur Antikoagulation eingesetzt werden.

Sandra Koch, Mannheim, stellte in ihrem Vortrag eine neu entwickelte Hochdruck-Flüssigkeits-Chromatographie (HPLC) zur Diagnostik der HIT II vor. Mit dieser Methode kann die Serotonin-Freisetzung aus Spender-Thrombozyten in Gegenwart von Patientenserum und Heparinen ermittelt werden. Als vorteilhaft bezeichnete Koch den Verzicht auf radioaktive Materialien und die schnelle Durchführbarkeit in nur 1,5 Stunden. Nach ersten Ergebnissen einer Studie an Patienten mit bzw. ohne HIT II und gesunden Kontrollen besitzt die HPLC eine Spezifität von 100 Prozent und eine Sensitivität von 94,7 Prozent.

Nach den Erfahrungen von Edelgard Lindhoff-Last, Frankfurt, ist bei etwa einem Drittel aller intensivpflichtigen Patienten mit der Entwicklung einer Thrombozytopenie zu rechnen. In diesem Kollektiv ist die differenzialdiagnostische Abklärung des Plättchenabfalls daher besonders wichtig. Darüber hinaus stellt sich bei intensivpflichtigen Patienten häufig ein akutes Nierenversagen ein. Im Rahmen der dann notwendigen Akutdialyse sollte bei Verdacht auf Vorliegen einer HIT II aufgrund der umfangreicheren Erfahrungen und der nur wenig steigenden Eliminations-Halbwertszeit Danaparoid-Natrium als alternatives Antikoagulanz bevorzugt werden. Im Gegensatz zu rekombinantem Hirudin (Lepirudin) ist die Therapiesteuerung auch bei variierender Restdiurese unproblematisch und die Pharmakokinetik unabhängig von der verwendeten Dialysemembran.

Sylvia Haas, München, präsentierte anhand von Fallbeispielen häufige Fehler in der Diagnose und Therapie der HIT II. Aufgrund der mangelnden Kenntnisse zur Pathophysiologie der HIT II wurde die Heparin-Dosis bei Auftreten thromboembolischer Komplikationen unter Heparinisierung in der Vergangenheit eher erhöht, statt dass Heparin abgesetzt wurde. Infolgedessen waren außergewöhnlich schwere Folgekomplikationen nicht selten. Haas machte darauf aufmerksam, dass sich eine thromboembolische Komplikation bereits vor dem Thrombozytensturz manifestieren kann und dass die anhaltende prothrombotische Reaktion auch nach Absetzen von Heparin noch häufig unterschätzt wird.

Stefan Seemann, Hamburg, berichtete über seine Erfahrungen mit Danaparoid-Natrium bei intensivpflichtigen Patienten mit nachgewiesener oder vermuteter HIT II. Wichtig ist in diesem Kollektiv eine individuelle Dosiseinstellung, angepasst an das Blutungsrisiko des jeweiligen Patienten. Dennoch auftretende Blutungskomplikationen lassen sich in der Regel durch Verabreichung von Frischplasma, Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten beherrschen.

Prof. Dr. Andreas Greinacher

Klinikum der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Institut für Immunologie und Transfusionsmedizin

Sauerbruchstraße

17487 Greifswald

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