PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(4): 379-383
DOI: 10.1055/s-2002-36083
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Entwicklung der Therapie Jugendlicher in Deutschland

Johann  Zauner, Annette  Streeck-Fischer
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Publication Date:
11 December 2002 (online)

PiD: Lieber Herr Zauner, über lange Zeit hat die Meinung geherrscht, dass Psychotherapie von Jugendlichen nicht möglich ist. Nachdem sich einige Auffassungen über diese Zeitspanne gewandelt hatten, wurde der Behandlung Jugendlicher zunehmende Beachtung geschenkt. Sie waren einer der ersten in Deutschland, der die Therapie im Jugendalter propagiert hat. Die ursprünglich ablehnende Einstellung gegenüber Jugendlichen ist im Grunde unverständlich, da Freud gerade mit Jugendlichen, z. B. der 18-jährigen Dora, erste und zentrale Erfahrungen gesammelt hat, ohne dass damals erwähnt worden wäre, dass es sich um Jugendliche handelt. Erikson hat erst darauf hingewiesen, dass die spezifischen Bedingungen der Adoleszenz von Freud nicht berücksichtigt wurden. Wie hat sich die Psychotherapie mit Jugendlichen entwickelt?

J. Zauner: Freud hat Erfahrungen mit einzelnen Jugendlichen gemacht, die noch nicht zu einer Konzeptualisierung adoleszenzspezifischer Probleme führen konnten. Im Gegensatz zum kleinen Hans, dessen Behandlung schon früh die analytische Kindertherapie befruchtet hat, dauerte das bei Jugendlichen eine ganze Weile. Meiner Ansicht nach hat das zu tun mit dem Unverständnis Erwachsener gegenüber der Situation Heranwachsender. Ich erinnere mich an eine analytische Arbeit, ich glaube, sie stand im Deutschen Ärzteblatt in den frühen Sechzigerjahren, in der ein bekannter Psychotherapeut meinte, dass eine analytische Therapie mit Jugendlichen nicht möglich sei, da sie so unzuverlässig seien. Dies ist ein wesentlicher Punkt in der Behandlung Jugendlicher, nämlich ihre vermeintliche Unzuverlässigkeit.
Sind sie unzuverlässig? Oder steckt dahinter nicht eher ein Autonomiestreben, das sich z. B. in unzuverlässigem Handeln zeigt, weil eine ausgebildete Selbst- und Ich-Achse mit angemessenerem Verhalten noch fehlt? Für die Entwicklung einer eigenständigen Therapie des Jugendalters waren die Arbeiten von Erikson und Blos von entscheidender Bedeutung: Erikson mit seinen Konzepten zur Identitätsfindung und Blos mit seiner Beschreibung der Stufen der Adoleszenz. Für die Therapie mit Jugendlichen war außerordentlich wichtig, dass es nicht die Adoleszenz mit ihren psychosozialen Entwicklungslinien gibt, so wie wir auch nicht die Pubertät mit den physiologischen Veränderungen des Heranwachsenden vorfinden. Jetzt war möglich, verschiedene Entwicklungsstufen zu erkennen und auch Fixierungen in jeweiligen Entwicklungsstufen festzustellen. So konnten bestimmte Behandlungskonzepte für die einzelnen Stufen entwickelt werden. Ich denke an die sehr bekannten Arbeiten von Krejczi und Bohleber aus dieser Zeit, die sich erstmalig ausführlich mit der Spät- und Postadoleszenz beschäftigt haben. Dazu kommen auch die Arbeiten von Bürgin, der vor allem auf die Autonomieentwicklung hingewiesen hat und die verschiedenen Behinderungen der Autonomieentwicklung.

PiD: Man hat also angefangen, die Adoleszenz mit ihren verschiedenen Entwicklungsphasen zu beschreiben, und war dann in der Lage therapeutisch-technische Modifikationen zu entwickeln. Wie sehen die aus?

J. Zauner: Das sah so aus, dass neben dem Verständnis der Psychodynamik insbesondere auch die Adoleszenzentwicklung mitberücksichtigt werden musste. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher heftig agiert, bedeutet das nicht, dass unbedingt Defizite in der Ich-Struktur vorliegen, sondern dass es sich genauso gut um ein verzweifeltes Streben nach Autonomie und Selbständigkeit handeln konnte. Blos hat dieses Verhalten als ein Agieren im Dienste des Ichs und seiner Entwicklung bezeichnet. Das bedeutet im Umgang mit den Jugendlichen, eine andere Einstellung gegenüber deren Handeln einzunehmen und bereit zu sein, dieses Agieren im Dienste des Ich anzunehmen, als solches zu verstehen, aufzuheben und in geeigneter Form in die Therapie einzubringen. Oder: Es kann vor allem in der mittleren Adoleszenz zu einem großen Problem werden, dass Jugendliche einen natürlichen Drang nach Selbständigkeit haben, der häufig im Widerspruch zur Notwendigkeit einer Therapie steht. Ich erinnere mich an ein Adoleszenz-Symposion in Tübingen. Ernst Federn, der sich sehr viel mit Jugendlichen und ihren Ich-Störungen beschäftigt hat, tat den Ausspruch: ,Ja, Jugendlichen-Therapie ist wichtig, aber sie kommen net (nicht), sie kommen net.' Es ist ein besonderes Problem, dass Jugendliche viel häufiger geschickt werden als Kinder. Es gibt eine sehr schöne Arbeit von Moses Laufer über den Londoner Adoleszenten-Beratungsdienst. Er zeigt auf, dass Jugendliche, die in ein übliches Diagnostiksystem eingespannt werden, sofort wieder wegbleiben. Ich glaube nicht, dass das dann unbedingt Borderline-Patienten sind, das könnten auch Jugendliche sein mit einer ganz anderen Entwicklungsproblematik. Und Laufer meint, es sei wichtig, dass man Jugendliche anhört und sie entscheiden lässt, ob sie kommen wollen oder nicht, auch wenn es ihnen schlecht geht. Solche Fälle sind dann oft recht günstig im Behandlungsverlauf, wenn sie zum dritten, vierten Mal gekommen sind.
Diese Erfahrung habe ich übrigens auch während meiner Tätigkeit in Tiefenbrunn gemacht, dass schwer gestörte Jugendliche zu ihrer Erstvorstellung oft nicht einmal aus dem Auto ausstiegen, und ich das Erstinterview mit ihnen im Auto machen musste. Aber dann, wenn man ihnen sagte: ,Du brauchst doch nicht hier zu bleiben, ruf an, und du kannst wiederkommen', dass es dann nach zwei-, dreimaligen Versuchen gelang in eine positive Behandlungssituation hinein zu kommen. Das sind so einige typische Beispiele für die Besonderheiten im Umgang mit diesen Jugendlichen.
Im therapeutischen Verlauf gibt es natürlich noch vieles andere zu berücksichtigen. Zum Beispiel was bei der Borderlinestörung immer wieder betont wird, gilt auch bei Jugendlichen generell, nämlich die Bedeutung der präzisen Initialabmachung am Beginn der Behandlung. Denn wenn es zum Agieren gegen das Setting kommt, wird eine Grenzsetzung durch den Therapeuten häufig als Wiederholung der bereits erfahrenen Eingriffe der Eltern erlebt, was in der Behandlung von Jugendlichen kontraproduktiv ist. Wenn man jedoch daran erinnert, was man miteinander ausgemacht hat, und immer wieder auf diese Abmachung und damit letzten Endes auch auf die Selbständigkeit des Jugendlichen zentriert, dann lässt sich mit dieser Situation wesentlich leichter und erfolgreicher umgehen.

PiD: Es gab vor etwa 20 Jahren eine Debatte zum Narzissmus in der Adoleszenz. Insbesondere Ziehe hat behauptet, dass die heutige bzw. damalige Adoleszenz immer narzisstischer werde. Was würden Sie dazu sagen?

J. Zauner: Ich möchte erst einmal etwas ganz Allgemeines über den Narzissmus in der Adoleszenz sagen. Die Adoleszenz ist ja dadurch gekennzeichnet, dass eine innere Ablösung von den hoch idealisierten Elternimagines vollzogen wird und dass der Jugendliche mit einer Leere konfrontiert wird, da die schützende, idealisierte Beziehung zu den inneren Objekten aufgelöst werden muss, um eine wirkliche Ablösung zustande zu bringen. Die Ablösung von den Objekten und die narzisstische Selbstbesetzung macht sich beim Jugendlichen im Verhalten und Erleben bemerkbar. Hier, meine ich, liegt der Unterschied, den Kernberg zwischen normalem und pathologischem Narzissmus gemacht hat und dessen Verschiedenartigkeit Paulina Kernberg in Bezug auf die Behandlung Jugendlicher herausgestellt hat. Man sollte diesen normalen Narzissmus, den normalen Entwicklungsnarzissmus nicht überbewerten, denn je mehr z. B. der Jugendliche in der Übertragung eine positive Beziehung zum Therapeuten oder zur Therapeutin entwickelt, umso mehr kann er die narzisstische Selbstbesetzung zurücknehmen. Wenn der Jugendliche in der Spätadoleszenz seine Bindungsbedürfnisse mehr nach außen richtet, wird diese Selbstbesetzung mehr und mehr unbedeutend. Bei einer neurotischen Problematik kann jedoch eine Fixierung auftreten.
Anders sind die Verhältnisse beim pathologischen Narzissmus, der in das Zentrum der Behandlung von solchen Jugendlichen gehört. Ich erinnere mich da an eine Jugendliche, die die Therapeutin hoch narzisstisch besetzt hat und zuletzt behauptete, die Therapeutin wäre ihre Mutter. Sie hatte die Unterscheidung zwischen Therapeutin und der Mutter völlig verloren. Und als die Therapeutin in Urlaub fuhr und die Patientin bei einer anderen Therapeutin in Vertretung behandelt wurde, behauptete sie steif und fest, die Therapeutin sei verstorben. Das bringt die enorme Aggression über ihren vermeintlichen Verlust zum Ausdruck. Eines Tages kam sie in das Erzieherzimmer, sah dort eine Ansichtskarte der Therapeutin liegen und fiel in Ohnmacht. In diesem Moment wurde ihr zumindest sekundenweise klar, was mit ihr los war. Aber sie konnte es noch nicht wahrnehmen, dazu war sie noch nicht in der Lage. Es blieb ihr nichts anderes übrig als ohnmächtig zu werden. Solche ausgeprägten Störungen müssen angesprochen werden. In einem ähnlichen Fall sind wir so vorgegangen, dass die Therapeutin sagte: „Ich bin nicht Ihre Mutter, sehen Sie mich genau an.” Es wäre falsch, solche Reaktionen in der Übertragung zu bearbeiten. In einem solchen Fall könnte die Patientin vielleicht sogar psychotisch werden. Solche Probleme können bei der narzisstischen Selbstbesetzung in Verbindung mit der inneren Ablösung von den idealisierten Elternimagines auftreten und es ist wichtig, darauf zu achten. Denn nur so ist ja eine wirkliche Ablösung möglich. Wenn solche Prozesse nicht stattfinden, dann sehen wir die ungünstigen Entwicklungen einer rein äußeren sozialen Ablösung.

PiD: Das ist auch ein schönes Beispiel zum Umgang mit Übertragung bei Jugendlichen. Darin werden spezifische therapeutisch-technische Modifikationen deutlich, die in der Adoleszenz zu beachten sind.

J. Zauner: Ja, die Schwierigkeit ist meiner Ansicht nach, den richtigen Zeitpunkt der Deutung der Übertragung zu finden. Man muss immer daran denken, dass in der Adoleszenz die Ich-Struktur physiologisch labilisiert ist - neben den psychopathologischen Störungen. Die physiologische Labilisierung ist für den Adoleszenzprozess notwendig. In der Therapie ist es wichtig, darauf zu achten, wann der Patient in der Lage ist, die Deutung aufzunehmen, und zwar wirkungsvoll aufzunehmen. Die Vorarbeit geschieht in dem Prozess, der sich zwischen Therapeut und Patient schon die ganze Zeit abgespielt hat. Wichtig sind dabei Projektionen des Patienten, insbesondere die Projektionen des negativen Selbst, die sich in der Entwertung von Setting und Therapeut äußern und soweit gehen können, das sie mit Beschimpfungen einhergehen. Es sind Projektionen negativer Selbstaspekte als Folge von Selbstvorwürfen und Unzufriedenheit. Deutungen können dann außerordentlich hilfreich sein, wenn man dem Patienten sagt: „Jetzt geht es mir offensichtlich so, wie es Ihnen immer gegangen ist.” Das sind keine eindringenden Deutungen, sondern bindende Deutungen, die von Patienten immer relativ früh verstanden wurden.

PiD: Herr Zauner, so habe ich Sie auch immer verstanden. Sie haben gesagt, man solle im therapeutischen Prozess die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz mehr im Auge haben als die tiefgreifende Aufarbeitung der neurotischen Konflikte.

J. Zauner: Ja, aber ich würde es anders formulieren. Man kann die tiefgreifende Problematik oder Dynamik nicht aufgreifen, wenn man sie nicht in Verbindung mit dem aktuellen Entwicklungsprozess sieht. Denn wie ich schon am Anfang sagte, stammen ja viele Probleme nur oder überwiegend aus dem Entwicklungsprozess. Eine genaue Betrachtung der Übertragung und der Gegenübertragung ermöglicht zu unterscheiden, was pathologisch ist und was zu erwarten ist. Dabei sollte auch berücksichtigt werden, was an Problemen durch die Verschiebungen in den Entwicklungsphasen - z. B. verlängerte Mitteladoleszenz - auftritt. Grundsätzlich wird der psychosoziale Prozess der Adoleszenzentwicklung beeinflusst von den frühen psychosexuellen Entwicklungsproblemen: Eine aggressive Problematik etwa hat auf die Verselbständigung der Adoleszenz eine große Auswirkung, aber nur deswegen, weil die Dynamik des Adoleszenzprozesses davon - das heißt durch die frühe psychosexuelle Entwicklung - beeinflusst wird. Es gibt dann noch Schwierigkeiten im Verständnis des sozialen Verhaltens der Jugendlichen. Als in Zürich vor zwei Jahrzehnten die großen Jugendunruhen waren, hatten die Schweizer Psychoanalytiker ganz verschiedene Verstehenszugänge. Damals wunderte ich mich darüber, dass häufig von der narzisstischen Fixierung der Jugendlichen die Rede war. Meiner Ansicht nach hatten die Unruhen gar nichts damit zu tun, sondern sie waren ein Versuch der Autonomieentwicklung gegen Verhältnisse, mit denen die Jugendlichen nicht zurechtkamen. Und man kann sie nur unterstützen, wenn man den entwicklungspositiven Ansatz in solchen Verhaltensweisen sieht. Ähnlich war es in den 68ern. Die Studentenrevolte war kein psychisches Problem, sie war ein psychosoziales Problem.

PiD: Herr Zauner, Sie haben Recht, da wird den Jugendlichen häufig unrecht getan, wenn sie unter psychopathologischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Ich möchte Sie noch bitten auf die stationäre Psychotherapie Jugendlicher einzugehen. Die Überzeugung, dass es sinnvoll ist, in diesem Alter stationäre Behandlungen durchzuführen, ist ja erst allmählich gewachsen und heute nicht mehr wegzudenken.

J. Zauner: Ja, das gilt nicht nur für die stationäre Psychotherapie, das gilt auch für die stationäre Psychiatrie. In den ersten Nachkriegsjahren gab es in vielen psychiatrischen Kliniken noch Kinderzimmer, aus denen später Kinderabteilungen geschaffen wurden. Erst viel später wurden Adoleszenzstationen eingerichtet. Die Jugendlichen wurden (und werden) in der Regel bei den Erwachsenen untergebracht und behandelt, was einen Vorteil, aber auch einen großen Nachteil hat. Der Vorteil war, dass Jugendliche durch die Erwachsenen und ihre Strukturierungsangebote, selbst wenn sie psychisch krank waren, weniger im Zusammenleben sozial überstimuliert wurden, als dies bei Gleichaltrigen der Fall ist. Als eine besondere Gefahr in der Behandlung Jugendlicher wurde ihre hohe Regressionsbereitschaft angesehen. Ich glaube jedoch, die ist gar nicht so groß. Die Gefahr der sozialen Überstimulierung im Zusammenleben von Gleichaltrigen mit psychischen Problemen ist jedoch groß. Das hat Krüger in Hannover einmal beschrieben. Es kommt zu einer Überstimulierung, weil sie aufgrund ihrer eigenen Problematik gar nicht erkennen können - so aus der Sicht von Dritten -, was hier vorgeht. Bei der Einrichtung von Jugendlichen-Abteilungen war wichtig, dies zu berücksichtigen. In Tiefenbrunn gibt es die Kinderabteilung seit 1952. Sie war ursprünglich in einer Baracke untergebracht, abgeschottet von den anderen Gebäuden, sozusagen Privatbesitz des damaligen Oberarztes Schwidder, der sie gegründet hat. Es war die einzige Station, auf der der Chef keine Visite machte. Die Jugendlichentherapie fand auf einer Station statt, auf der vorwiegend junge Erwachsene untergebracht waren. Zwei Ärztinnen, die Interesse an Hebephrenie oder der Hebephrenie ähnlichen Krankheitsbildern hatten, arbeiteten hier. Sie machten Einzelbehandlungen mit ihnen unter Supervision von Frau Fuchskampf in Berlin, die große Erfahrung mit der Behandlung von psychotischen Kindern und Epileptikern hatte. Aus diesen Bedingungen heraus hat sich dann allmählich eine Jugendlichen-Station entwickelt und später eine Kinder-Jugend-Abteilung - es war Anfang, Mitte der Sechzigerjahre. Ich habe 1965 die Kinder- und Jugendlichabteilung übernommen - zunächst als Oberarzt - und habe dann 1970 endgültig die Kinder-Jugend-Abteilung aufgebaut. Hier war Folgendes wichtig: dass man nicht den Fehler machte, das regressive Moment zu fürchten - das brauchte man ja für die Therapie. Es kam darauf an, die soziale Überstimulierung in den Griff zu bekommen und die pädagogische Seite einzuführen. Im Gegensatz zu den Erwachsenenpatienten, zum Beispiel den Borderline-Patienten, ist die pädagogische Arbeit der Jugendlichen unerlässlich, denn sie brauchen Hilfen in ihrem Entwicklungsprozess. Es gelang mit der Zeit, wenngleich unter großen Schwierigkeiten, ein entsprechendes Konzept zu entwickeln, das erlaubte, die Therapie und die pädagogisch-psychosoziale Arbeit zusammenzubringen. Dies war nicht leicht wegen der verschiedenen professionellen Selbstverständnisse, die aufeinander prallten. Es wurde dabei deutlich, wie wichtig die Supervision war, sowohl die Supervision durch einen Außenstehenden in Bezug auf die Beziehungsprobleme, aber auch die interne in Bezug auf die therapeutische Situation. Mit der Zeit wurde auch erkannt, wie wichtig die psychopharmakologische Begleitung der Therapie sein kann. Zum Beispiel in Bezug auf Zwangsneurosen hatte ich mit Prof. Meier, dem damaligen Ordinarius der Psychiatrie, ein Konzept erarbeitet, wie man schwere Zwangsneurosen durch Behandlung mit Psychopharmaka erst einmal überhaupt rapportfähig machen konnte. Ich weiß noch, dass ich besonders schwer kranke Jugendliche zunächst in die Psychiatrie verlegte, wo sie medikamentös eingestellt wurden, um dann erst bei uns aufgenommen zu werden. Das sind alles Entwicklungen in der stationären Psychotherapie, die heute selbstverständlich sind, die aber damals bei Psychotherapeuten auf Widerwillen gegenüber Psychopharmaka stießen. Ähnlich sieht das heute in Bezug auf den Umgang mit Ritalin aus, wo eine Abwehr gegen Ritalin entstanden ist statt um eine präzise Indikationsstellung für Ritalin zu kämpfen. Ähnlich war das damals in Bezug auf die Psychopharmaka ganz im Allgemeinen.

PiD: Die mehrdimensionale klinische Behandlungsorganisation wurde in Tiefenbrunn ja bereits sehr früh konzeptualisiert.

J. Zauner: Ja, durch die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen mussten immer wieder unvermeidliche Spannungen aufgearbeitet werden, die aus den unterschiedlichen Berufsverständnissen entstanden. Ich habe die Kunstzeitschrift Art. Eines Tages bekam ich ein Heft, das wundervolle Bilder einer jungen Malerin zeigte. Sie hatte den Staatspreis der Seychellen für ihre Plakate bekommen. Ich las den Bericht des Reporters und merkte, dass es eine ehemalige Patientin von mir war. Ich war fast empört, als ich lesen musste, dass sie sagte, in Tiefenbrunn sei sie auch über längere Zeit gewesen, aber dort sei sie eingesperrt worden. Es war eine Patientin, die von Kindheit an wegen einer schweren autistischen Störung in der Psychiatrie gewesen war und die hoch intelligent dort die Schule abschloss. Als Jugendliche war sie dann zu uns verlegt worden, um den Adoleszenzprozess in dieser schwierigen Situation zu begleiten. Sie schickte mir, bevor sie aufgenommen wurde, eine Liste von 40 Bedingungen, unter denen sie sich eine Aufnahme vorstellen konnte. Es war mir klar, wenn ich die alle ablehne, dann kommt sie nicht. Wir haben uns also zusammengesetzt und überlegt, welche Bedingungen wir akzeptieren konnten. Wir haben z. B. akzeptiert, dass sie die Fenster verkleben durfte. Sie kam dann und hat als erstes eine zweite Tür eingebaut, und zwar mit dünnen Holzleisten und Stanniolpapier. Sie hat mehrere solcher Besonderheiten für sich geschaffen. Die Therapie verlief gar nicht schlecht, natürlich abhängig von ihrer schwierigen inneren Situation. Vor allem beschäftigten sie schreckliche aggressive Fantasien, mit denen sie so umzugehen lernte, indem sie sich Zugang zur Universitätsbibliothek verschaffte und dort ein Buch zu Untersuchungen über Folter las, ein Konvolut von etwa 150 Seiten. Sie zeigte eine positive Entwicklung von der Selbstbestätigung zum sozialen Handeln. Aber sie zog keine Schuhe an, auch im Winter nicht, und war übermäßig korpulent, sodass sie eine sehr auffällige Erscheinung blieb. Die Erzieher taten sich schwer mit ihr. Sie wollten sie immer in einen sozialen Beruf hineinbringen. Es zeigte sich in den Konferenzen, wie schwierig es war, ihr einen eigenen Raum zu lassen. Eines Tages wurde sie entlassen, ihre Eltern hatten ihr in dem Göttinger Wohnquartier, wo sie zu Hause waren, eine kleine Wohnung gemietet. Dann hatte dieses Mädchen, diese junge Frau das große Glück, auf eine Sozialarbeiterin der Nervenklinik zu stoßen, die erkannte, was sie brauchte. Sie gab ihr ein Lehrbuch zum Selbsterlernen der Malerei. Mir wurde dann klar, dass die Patientin durch die Erwartungen, die ausgesprochenen, aber vor allem unausgesprochenen - ein autistischer Mensch hat besonders sensible Antennen für Atmosphärisches -, überfordert war, dass sie sich in Tiefenbrunn irgendwie wirklich eingesperrt fühlen musste, weil sie nicht ihre eigene Entwicklung gehen durfte, sondern nur eine sozial vorgeschriebene. Ich glaube, dass dieses Extrembeispiel die besondere Bedeutung einer auch emotional stimmigen Zusammenarbeit und eines gegenseitigen Verständnisses von Teammitgliedern zeigt. Oft haben es Erzieher nicht leicht, weil Ärzte und Psychologen sie eher als Erfüllungsgehilfen ansehen denn als einen Teil des dynamischen Versorgungsnetzes. Außensupervision und Innensupervision in Bezug auf das therapeutische Vorgehen sind hier unerlässlich.

PiD: Die stationären Behandlungskonzepte in Tiefenbrunn fanden damals breite Beachtung und Interesse, so dass es eine Reihe von neugegründeten Einrichtungen gab, die sich an den Erfahrungen und Entwicklungen in Tiefenbrunn orientierten.

J. Zauner: Ja, es gab damals viel Interesse. In vielen Kinderpsychiatrien galt es jetzt, Adoleszenzeinrichtungen zu schaffen. Ein reger Austausch fand statt durch die in relativ kurzen Abständen stattfindenden Adoleszenz-Symposien. Ich erinnere mich an eines in Tübingen und dann in Freiburg. Interessant war, dass die Probleme in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken ganz ähnliche waren, weil sie nicht durch die Krankheitsbilder, sondern durch den Entwicklungsprozess bestimmt waren. Dabei zeigte sich, dass die analytische Theorie - außer in der Einzeltherapie - in der stationären Psychotherapie nicht direkt umgesetzt werden konnte, sondern dass sie zum Verständnis der Prozesse diente. Die Entwicklung zeigte, dass zum Beispiel auch die systemische Theorie für viele Kliniken ein gutes Hilfsmittel war zum Verständnis der Prozesse innerhalb der Klinik. Voraussetzung war aber immer, dass man nicht die Theorie im Vordergrund hatte, sondern den Adoleszenzprozess als das eigentlich steuernde Element ansehen konnte.

PiD: Herr Zauner, Sie haben bereits einiges über schwer gestörte Jugendliche gesagt. Ein besonderer Schwerpunkt von Ihnen war damals auch die konzeptuelle Entwicklung einer klinischen Borderline-Therapie für Jugendliche.

J. Zauner: Die Entwicklung der Borderline-Therapie war gar nicht so einfach, da es mitunter außerordentlich schwierig ist, zwischen einer strukturellen Störung aufgrund einer Borderline-Organisation und einer schweren Adoleszenzkrise zu unterscheiden. Aber es zeigte sich dann doch, dass es einige Kriterien zur Unterscheidung gibt. Das war die Vielfalt der Symptomatik, die man bei neurotischen auch schweren Störungen kaum hat. Der Wechsel der Symptomatik und die Nähe zur Dekompensation sind ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. So kann beispielsweise ein vorübergehender Zwang nicht der psychosexuellen Kompensation früherer Fixierungen, sondern der aktuellen Abwehr des Persönlichkeitszerfalls dienen. Ich habe nicht selten erlebt, dass Therapeuten den Zwang sozusagen direkt angegangen sind, der dann plötzlich weg war, obwohl er sehr ausgeprägt schien, und die Patienten psychotisch dekompensierten. Solche Unterscheidungen sind außerordentlich wichtig, Unterscheidungen, die später durch die strukturelle Diagnostik möglich wurden. - Oder zum Beispiel die sexuelle Problematik, meinetwegen homosexuelle Ängste, die sind nicht so sehr sexuell bedingt, sondern identitätsbedingt. Hier war es ganz wichtig, nicht auf die sexuelle Problematik einzugehen, sondern auf die Unsicherheit der Geschlechtszugehörigkeit, um nur einige kleine Bespiele zu nennen. Ein zweites Problem war das Agieren, das in der Adoleszenz eine besondere Bedeutung hat. Eine große Rolle spielt dabei die Infragestellung des Settings und der therapeutischen Situation, es sind die massivsten Abwehrmechanismen, die es gibt. Wenn die therapeutische Beziehung zu bedrohlich wird, dann wird diese Abwehr wirksam. Die therapeutische Beziehung und das Setting werden durch diese Abwehr infrage gestellt, was z. B. im Zuspätkommen oder anderem Agieren zum Ausdruck kommt. Ich glaube, man sollte hier immer den Zusammenhang mit der Übertragungsbeziehung sehen: Wird der Therapeut durch sein Näheangebot zum Beispiel zu gefährlich, dann kann er am besten abgewehrt werden, indem er sozusagen ausgeschaltet wird. Dies zu erkennen haben uns amerikanische Arbeiten über die Borderline-Adoleszenz geholfen, die darauf hinwiesen, dass man zum Beispiel mit den Eltern nicht arbeiten sollte, bevor eine gewisse Fähigkeit des Jugendlichen entwickelt ist, sagen wir mal eine gewisse Elternbeziehung zuzulassen. Das ist oft außerordentlich schwierig. Wir haben es dann so gemacht, dass wir den Eltern empfahlen, in einer Beratungsstelle oder bei früheren Therapeuten weiter Rat zu holen, bis wir die Möglichkeit sahen, sie bei uns einzubeziehen. Ich habe einmal einen psychotischen Zusammenbruch eines Jugendlichen erlebt, als er hörte, dass die Eltern in einem anderen Haus der Klinik bei einem anderen Therapeuten gewesen waren, um sich zu informieren. Sein Zusammenbruch resultierte aus der Tatsache, dass sie einen tabuisierten Bereich betreten hatten. Da muss man sehr aufpassen. Es ist allerdings auch wichtig, die Eltern nicht draußen zu lassen, sondern dafür zu sorgen, dass sie versorgt sind. Es sind Extrembeispiele, die ich hier angeführt habe, die dazu dienen, dieses Problem überhaupt zu erkennen.

PiD: Vielen Dank, Herr Zauner, ich glaube, wir haben die wesentlichen Themen gestreift. Ich habe noch mal feststellen können, wie sehr mich Ihre Lehrmeinungen in meiner Arbeit mit den Jugendlichen beeinflusst haben - wofür ich dankbar bin. Ich danke Ihnen für das interessante Gespräch.

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