Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(3): 104
DOI: 10.1055/s-2003-36656
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Shared Decision Making“: Arzt oder Patient - Wer entscheidet?

Aus DMW 39/2002; S. 2021 - 2024
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Publication Date:
16 January 2003 (online)

Mit großem Interesse haben wir den Artikel von Isfort und Kollegen [3] gelesen. Während das paternalistische Modell der Entscheidungsfindung der Forderung nach Selbstbestimmung des Individuums nicht gerecht wird, scheint das Konzept des „informed decision making“ die Dimension von Krankheit als „anthropologische Situation von Not und Hilfe“ [4] und eine damit möglicherweise verbundene Einschränkung der Fähigkeit autonome Entscheidungen zu treffen, nicht ausreichend zu berücksichtigen. Das Modell des „shared decision making“ als Mittelweg zwischen den beiden genannten ist attraktiv, weil es Mitspracherecht für Patienten bei Teilung der Verantwortung für die Entscheidung verbinden will.

Wie von den Autoren erwähnt gibt es bislang keine einheitliche Definition für „shared decision making“. Insbesondere ist unklar, was Patienten und Ärzte meinen, wenn sie von „Teilen von Informationen“ und „Mitbestimmung“ reden. Fallowfield weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit hin, Patienten die Informationen entsprechend ihren Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen und auch die Möglichkeit zu geben, von einer aktiven Mitentscheidung abzusehen [2]. Aufgrund der bislang unklaren Bedeutung grundlegender Termini des Konzeptes von „shared decision making“ scheinen qualitativ empirische Studien notwendig, um zu verstehen, was die an dem Prozess beteiligten Personengruppen unter diesem Begriff verstehen [1]. Ohne diese konzeptionelle Basis wird die Aussagekraft zukünftiger Ergebnisse aus quantitativ empirischen Studien beschränkt bleiben.

Die Autoren betonen die Bedeutung der kommunikativen Fertigkeiten für „shared decision making“. Dabei ist zu bedenken, dass ein auf die dyadische Gesprächssituation zwischen Arzt und Patient fokussierendes Konzept von „shared decision making“ die Realität eines hochdifferenzierten und arbeitsteiligen Gesundheitssystems nur unvollständig abbildet. Entscheidungen bei chronischen Erkrankten fallen oftmals in Gesprächen mit verschiedenen Ärzten. Diese Begegnungen sind nicht selten auf wenige Minuten beschränkt, was dem zeitintensiven Austausch und Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung entgegensteht. Die Einbeziehung solcher Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen ist bei Überlegungen zu Entscheidungsmodellen mit einem höheren Grad an Patientenmitbestimmung notwendig. Andernfalls drohen richtige, aber nicht ausreichende Veränderungen, wie die vorgeschlagene Ausbildung kommunikativer Kompetenzen, zu scheitern. Unsere kürzlich abgeschlossenen Untersuchungen in Großbritannien zeigen, dass kommunikativ gut ausgebildete Ärzte auf einen Klinikalltag stoßen, der geprägt ist von Zeitknappheit und wenig Anleitung durch erfahrene Ärzte (Schildmann J, Cushing A, Doyal L, Vollmann J. Informed consent in clinical practice: Pre Registration House Officers’ experiences, views and the need for postgraduate training 2002, unveröffentlichtes Manuskript). Diese strukturellen Bedingungen erschweren die Umsetzung des Modells von der Partnerschaft zwischen Patient und Arzt.

Die daraus abgeleitete Forderung nach grundlegenden Veränderungen zur Durchsetzung von mehr Patientenmitbestimmung macht eine sorgfältig begründete theoretische Grundlage als Ausgangspunkt für empirische Studien zu den möglichen Effekten von „shared decision making“ notwendig.

Literatur

  • 1 Charles C, Gafni A, Whelan T. Shared decision-making in the medical encounter: what does it mean? (or it takes at least two to tango).  Soc Sci Med. 1997;  44 681-692
  • 2 Fallowfield L. Participation of patients in decisions about treatment for cancer.  BMJ. 2001;  323 1144
  • 3 Isfort J, Floer B, Koneczny N, Vollmar H C, Butzlaff M. „Shared decision making“: Arzt oder Patient - Wer entscheidet?.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 2021-2024
  • 4 von Weizsäcker V. Gesammelte Schriften. Suhrkamp: Frankfurt 1996 Bd 5: 13

Autor

Jan Schildmann
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Glückstraße 10

91054 Erlangen

Phone: +49/9131/8526437

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Email: jan.schildmann@gesch.med.uni-erlangen.de

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