Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2003; 38(2): 73-74
DOI: 10.1055/s-2003-36995
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wann ist die Narkose „tief” genug?

When is the Anaesthesia “Deep” Enough?S.  Münte1 , S.  Piepenbrock1
  • 1Zentrum für Anästhesie der Medizinischen Hochschule Hannover
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Publication Date:
30 January 2003 (online)

Während der ersten 100 Jahre der Anästhesiegeschichte mussten hohe Konzentrationen von Anästhetika angewendet werden, damit die Patienten während der Operation sich nicht bewegten und die Operation durchgeführt werden konnte. Eine erhebliche Kreislaufdepression und eine erhöhte Anästhesiemortalität mussten in Kauf genommen werden. Nach der Einführung von Curare im Jahre 1940 in die Anästhesie, war dann die Operation am relaxierten Patienten möglich, ohne gleichzeitig gefährliche Mengen Anästhetika anwenden zu müssen. Die Gefahr der zu tiefen Narkose wurde nun ersetzt durch das erhöhte Risiko der intraoperativen Wachheit des relaxierten Patienten.

Um die verschiedenen Formen der intraoperativen Wachheit zu verstehen ist es wichtig, einige Aspekte über die Gedächtnisstruktur zu wissen. Seit den 70er-Jahren weiß man, dass es mehrere Gedächtnisformen gibt. Wichtig dabei ist, dass das Langzeitgedächtnis aus bewussten (expliziten) und unbewussten (impliziten) Anteilen besteht. Das Arbeitsgedächtnis, welches dem Kurzzeitgedächtnis entspricht, erhält ständig akustische, visuelle und taktile Informationen aus der Außenwelt. Wenn diese Informationen als wichtig erachtet werden, zum Beispiel Ereignisse des Tages, werden sie in das bewusste Gedächtnis eingespeichert. Von dort können sie wieder abgerufen werden. Gleichzeitig werden in das unbewusste implizite Gedächtnis Informationen eingespeichert, denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zum Teil sind die Inhalte des impliziten Gedächtnisses angeboren. Zum Beispiel, wenn wir zwei Objekte in der Umgebung sehen, wissen wir sofort, welches größer ist. Zum Teil sind die Inhalte angelernt und werden durch Üben automatisiert: So müssen wir zum Beispiel beim Autofahren nicht überlegen, was wir tun müssen, um weiter zu kommen. Beide Gedächtnissysteme bleiben im wachen Zustand aktiv.

Seit über zehn Jahren ist bekannt, dass Anästhetika unterschiedliche Wirkungen auf verschiedene Gedächtnisstrukturen haben. Durch Erhöhen der Anästhetikadosis wird das Arbeitsgedächtnis nach und nach ausgeschaltet. Eine weitere Erhöhung bewirkt einen Verlust des Bewusstseins und des expliziten Gedächtnisses. Nachdem das explizite Gedächtnis ausgeschaltet ist und der Patient eine klinisch adäquate Narkosetiefe erreicht hat, kann das implizite Gedächtnis noch aktiv bleiben.

Jones hat vier Stadien der intraoperativen Wachheit danach definiert, inwieweit das Gedächtnis während der Narkose ausgeschaltet ist. Im ersten Stadium wacht der Patient während der Operation auf und kann bewusst wahrnehmen, was um ihn herum geschieht. Er kann sich nach der Operation genau daran erinnern, was während der Operation vorging. Im zweiten Stadium wird der Patient während der Operation wach, nimmt wahr, was um ihn herum passiert und ist zum Beispiel in der Lage, nach Aufforderung die Augen auf zu machen oder die Hand zu bewegen. Er hat aber postoperativ keine explizite Erinnerung darüber, dass er wach war, d. h. er hat eine Amnesie. Eine implizite Erinnerung an diese Phase ist dagegen sehr wahrscheinlich. In Stadium drei scheint der Patient tief zu schlafen und folgt auch keinen Aufforderungen mehr. Er erfährt eine eingeschränkte Form von Wachheit, während der er akustische Informationen verarbeiten kann. Es können unbewusste implizite Gedächtnisinhalte gebildet werden, die mit speziellen Testverfahren evaluiert werden können. Im vierten Stadium hat der Patient keinerlei bewusste noch unbewusste Erinnerungen.

Es gibt verschiedene Methoden, um diese Stadien der intraoperativen Wachheit zu überprüfen. Patienten die während einer Operation wach waren, erzählen selten spontan von Vorkommnissen, welche sie erlebt haben. Häufig kommen die Erinnerungen erst ein oder mehrere Tage postoperativ ins Bewusstsein und der betreffende Anästhesist erfährt meist gar nichts von Wachheitserlebnissen seiner Patienten. Deshalb sollte ein Anästhesist, der den Verdacht hat, dass sein Patient während der Operation wach gewesen sein könnte, nach ein bis mehreren Tagen dem Patienten strukturierte Fragen stellen: 1. Was ist ihre letzte Erinnerung vor dem Einschlafen? 2. Was ist ihre erste Erinnerung nach dem aufwachen? 3. Haben sie Erinnerungen dazwischen? 4. Haben sie geträumt? Wenn diese Methode des Nachfragens angewendet wurde, betrug die Häufigkeit von Stadium 1 in den neueren Untersuchungen 1 - 2 von 1000, bei Herzoperationen und Kaiserschnitt ist die Häufigkeit 1 - 2 von 100 und bei schwer verletzten Patienten 10 - 40 von 100. Ursachen für die intraoperative Wachheit können zum Beispiel eine zu geringe Menge Narkosemittel, hoher Bedarf an Anästhetika oder Gerätedefekte sein.

Das zweite Stadium der intraoperativen Wachheit ist mit Amnesie verbunden und kann mit der so genannten Isolierten Unterarmtechnik herausgefunden werden. Hierbei wird ein Arm vor der Gabe eines Muskelrelaxans von der Blutzufuhr abgebunden. Bei Erhalt des Bewusstseins kann der ansonsten relaxierte Patient dann intraoperativ Aufforderungen mit gezielter Bewegung des isolierten Armes beantworten. Der Patient wird nun direkt aufgefordert, die Hand des Anästhesisten zweimal zu drücken. Dr. Russell aus England hat mit dieser Methode Patienten bei verschiedenen Narkoseformen untersucht. Er fand heraus, dass von insgesamt 531 Patienten 222 während der Operation wach waren, aber nur sieben dieser Patienten konnte sich bewusst an die Wachheit erinnern.

Wenn es um die Frage nach Wachheit während der Anästhesie geht, hat die Untersuchungsmethode, die man anwendet, einen erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse. Dr. Nordström aus Schweden untersuchte die Wachheit von Patienten nach einer totalen intravenösen Anästhesie mit Propofol, Alfentanil und Muskelrelaxans. Er stellte den Patienten die o. g. Fragen am Tag der Operation, am 1. und am 7. Tag postoperativ und fand heraus, dass 2 von 1000 Patienten während der Operation wach gewesen waren. In einer Studie von Dr. Russell aus England wurden Patienten ebenfalls mit dieser Technik anästhesiert. Mit der „Isolierten Unterarmtechnik” fand er heraus, dass 42 von 100 seiner Patienten während der Operation wach waren. Sie hatten jedoch keine Erinnerung an die Wachheitsepisode.

Während des Stadiums der unbewussten Wachheit mit impliziter Erinnerung werden akustische Informationen während der Operation und Vollnarkose vom Gehirn registriert. Diese Informationen gelangen jedoch nicht ins Bewusstsein. Um unbewusste Erinnerungen bei anästhesierten Patienten zu überprüfen, wurden sog. Bahnungseffekte angewendet. Bahnung bedeutet, Neues zu lernen, ohne dass einem dieses bewusst ist. Dabei zeigt sich eine Bahnung als eine Verhaltensänderung. In einer Studie wurden Geschichten oder Wörter den Patienten während der Narkose akustisch präsentiert. Nach der Narkose wurde überprüft, ob ein Bahnungseffekt in Form von schnellerer Lesegeschwindigkeit der Geschichten oder Präferenz der vorgespielten Wörter nachweisbar ist. Wenn den Patienten gleichzeitig eine bewusste Erinnerung an das vorgespielte Material fehlt, können solche Bahnungseffekte als eine unbewusste Erinnerung gedeutet werden.

Es ist erstaunlich, dass die meisten Patienten die bewusste Erinnerungen an ihre Operation haben, keine Spätfolgen davontragen. Ein Teil betroffener Patienten entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung mit Verhaltensstörungen, Schlafstörungen, Depressionen und/oder anderen psychischen Störungen. Es ist möglich, dass auch unbewusste Erlebnisse während einer Operation Einfluss auf die postoperative Erholung und Befindlichkeit des Patienten haben. Eine Beobachtungsstudie zeigte, dass ähnliche Symptome wie bei der posttraumatischen Belastungsstörung sich auch bei Patienten entwickelten, die während der Operation eine unbewusste Wachheit (gemessen mit der isolierten Unterarmtechnik) erlebten. Spätfolgen der impliziten Erinnerung sind bisher in kontrollierten Studien jedoch nicht nachgewiesen.

Trotz des immer aufwändiger gewordenen Anästhesiemonitorings ist es noch heute möglich, dass es zu verschiedenen Formen der Wachheit während der Vollnarkose kommen kann. Dies ist möglich, da Anästhesisten die Narkose hauptsächlich nach klinischen Parametern wie Blutdruck, Herzfrequenz, Tränenfluss, Pupillengröße, Schweißsekretion und Muskelbewegungen steuern. Diese sagen wenig über den Bewusstseinszustand des Patienten aus. Die Isolierte Unterarmtechnik wird nur von wenigen Anästhesisten beherrscht und kann somit nur selten in der täglichen Anästhesiepraxis angewendet werden. Im Moment gibt es keine zuverlässige Methode, um zu bestimmen, wann ein Patient während der Narkose Bewusstsein erlangt. Es ist zu erwarten, dass die schon heute zur Verfügung stehenden EEG-Monitore in Zukunft die Narkosesicherheit erhöhen. Es bedarf jedoch weiterer klinischer Untersuchungen, die zeigen, dass die Wachheit und die Gedächtnisfunktionen des Patienten mit den von verschiedenen EEG-Monitoren angegebenen Narkosestadien korrelieren.

PD Dr. med. Sinikka Muente

Zentrum für Anästhesie der Medizinischen Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: Muente.Sinikka@mh-hannover.de

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