Z Gastroenterol 2003; 41: 16-17
DOI: 10.1055/s-2003-37427
Supplement
© Karl Demeter Verlag im Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Molecular based surgery - individuelle Therapie erblicher Tumorerkrankungen

K. Günther1 , T. Förtsch1 , R. Croner1
  • 1Chirurgische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen
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Publication Date:
11 March 2003 (online)

Während früher erbliche Tumorerkrankungen erst nach deren Manifestation anhand des klinischen Erscheinungsbildes unter Berücksichtigung der Familienanamnese diagnostiziert wurden, ist man aufgrund des rapide anwachsenden Wissens der Molekularbiologie heute in der Lage, bereits präsymptomatisch anhand genetischer Tests betroffene Personen zu identifizieren. Neben diesem rein diagnostischen Aspekt können mit zunehmender Erfahrung auch therapeutische Konsequenzen gezogen werden, denn offenbar variieren die Verläufe eines erblichen Tumorsyndroms in Abhängigkeit von der genauen Mutationsart und -lokalisation innerhalb des verantwortlichen Gens.

Diese hochinteressante Entwicklung soll exemplarisch an der familiären adenomatösen Polyposis (FAP) erläutert werden, da sich hier besonders stark der Wandel von einer einheitlich standardisierten Behandlung samt Vor- und Nachsorge zu einem sehr individuellen Vorgehen abzeichnet.

Die FAP kommt mit einer Inzidenz von 1:8000 vor und ist für etwa 1-2 % aller kolorektalen Karzinome verantwortlich. Ursache ist eine autosomal-dominant erbliche Mutation des adenomatösen-Polyposis-coli-Gens (APC), einem Tumorsuppressorgen, lokalisiert auf Chromosom 5 (5q21). Das Erkrankungsrisiko für Kinder eines betroffenen Elternteils beträgt 50 % mit 100 % Penetranz. Die einmal ererbte Mutation eines APC-Allels, die in jeder Körperzelle vorliegt, bleibt so lange folgenlos, bis nach Jahren eine spontane Mutation des zweiten APC-Allels stattfindet, dadurch zu einer veränderten oder ganz fehlenden APC-Funktion führt und, ausgehend von dieser Zelle, eine Tumorentwicklung über Mutationen weiterer Gene, z. B. k-ras und p53, abläuft. Dieser äußerst komplexe Vorgang wird, in Abhängigkeit von der Organlokalisation, wesentlich durch die Art der ererbten APC-Mutation bestimmt und prägt das klinische Erscheinungsbild samt Krankheitsverlauf.

Generell ist die allgemeine Neoplasierate bei der FAP erhöht. Am anfälligsten für eine Tumorentwicklung ist jedoch das Kolon. Meist schon in der Jugend entwickeln sich die namengebenden, bis zu tausenden Polypen, welche über die auch von der sporadischen Karzinogenese bekannte Adenom-Karzinom-Sequenz entarten und unbehandelt im durchschnittlich 40. Lebensjahr zum Tod führen. Neben dieser klassischen Form gibt es auch aggressive, rasche Verläufe sowie eine sehr milde Polyposis, attenuated FAP (AFAP) genannt, mit spätem Beginn und geringem Entartungspotenzial, wobei oft das Rektum ausgespart bleibt.

Mit deutlich geringerer und wechselnder Häufigkeit kommt es zu Polypenwachstum mit konsekutiver Karzinomentwicklung im Dünndarm, insbesondere papillennah im Duodenum, sowie zu sog. Desmoid-Tumoren. Diese semimalignen, also infiltrativ wachsenden, fibromatösen Tumoren ohne Metastasierungspotenzial entwickeln sich häufig nach Traumen oder Operationen in der Bauchwand, im Dünndarmmesenterium oder Retroperitoneum. Hier können sie lokal zu tödlichen Komplikationen führen und stellen nach dem kolorektalen Karzinom mit die häufigste Todesursache bei der FAP dar.

Die Hintergründe für diese außerordentlich große und bislang wenig beachtete Bandbreite der FAP sind in der Genetik zu suchen.

Das mit 98 kb vergleichsweise lange APC-Gen kodiert für ein ebenso großes, aus 2843 Aminosäuren bestehendes Protein mit zahlreichen, darüber verteilten funktionellen Domänen. Je nach Lokalisation und Art der Genmutation entsteht demzufolge ein verändertes, meist gekürztes APC-Protein, welches durch seine gestörten oder fehlenden Funktionen die verschiedenen Krankheitsverläufe einer jeden FAP-Familie festlegt. Mit dieser Erkenntnis konnten mittlerweile durch die molekularbiologischen Analysen großer Patientenpopulationen - trotz des Einflusses weiterer, z. T. noch unerforschter modifizierender Gene - regelhafte Genotyp-Phänotyp-Korrelationen für die FAP erstellt werden.

Mutationen in den Kodons 77-157 des APC-Gens führen zur AFAP. Daran schließt sich ein breiter Bereich mit klassischer Polyposis an, der zwischen den Kodons 1250-1330 in eine besonders ausgeprägte Form mündet. Jenseits von Kodon 1554 sind Mutationen wieder selten und verursachen nur eine AFAP.

Desmoide treten bis etwa Kodon 1400 nur in 10-20 % auf. Jenseits davon sind sie sehr häufig und in den Kodons 1445-1578 kommen sie praktisch immer vor. Interessant ist bei Kodon 1900 die Kombination aus offenbar bes. aggressiven Desmoiden und sehr milder Polyposis.

Die Vorteile dieses Wissens liegen auf der Hand. Bislang wurde als Standard-Prävention für alle FAP-Patienten zur rechtzeitigen operativen Entfernung der kolorektalen Mukosa - dem Ort der Haupttumormanifestation - die sehr aufwändige, komplikations- und nebenwirkungsbehaftete restorative Kolektomie mit Proktomukosektomie und ileo-pouch-analer Anastomose (IPAA) unbedingt vor dem 20. Lebensjahr empfohlen. Vielmehr ist jetzt eine individuelle, „molecular based surgery” in Aussicht, bei der einerseits der Zeitpunkt der Operation sowie andererseits die Methode variiert werden können. Bei AFAP wäre demnach erst in höherem Lebensalter und die nur früher geübte, einfachere und für den Patienten wesentlich angenehmere Kolektomie mit Ileorektostomie indiziert. Insbesondere bei erhöhtem Desmoidrisiko sollte die Operation so spät und schonend wie möglich erfolgen. Inwieweit dabei der Einsatz nichtsteroidaler Antiphlogistika, am bekanntesten Sulindac, präoperativ zur Polypenreduktion und konsekutiver Verzögerung des Operationszeitpunktes oder perioperativ zur Prävention der Desmoidentstehung indiziert sein kann, ist noch Gegenstand aktueller Forschung. Unbestritten bleibt bei der klassischen FAP die Indikation zur IPAA im frühen Erwachsenen- und bei aggressiven Formen im Kindesalter.

Zu betonen ist darüber hinaus, dass durch die Verfügbarkeit der beiden sich ergänzenden Operationsmethoden, egal ob heutzutage noch offen oder bereits laparoskopisch angewandt, die Anlage eines dauerhaften künstlichen Darmausgangs der Vergangenheit angehören sollte.

Trotz all dieser sprunghaft anwachsenden Erkenntnisse ist eine Therapieplanung der FAP allein anhand der Mutationsart bis jetzt noch nicht sicher etabliert. Den letzten Ausschlag gibt immer noch die endoskopische Beurteilung des Kolorektums. Überdies kann bei 20 % der FAP-Patienten die Mutation nicht nachgewiesen werden.

Doch es ist klar abzusehen, dass „molecular based surgery” als Erstes bei der FAP zur Anwendung kommen und hoffentlich zukünftig nicht nur bei erblichen Tumorsyndromen, sondern auch bei vermeintlich „sporadisch” auftretenden, bös- und gutartigen Erkrankungen individuelle Therapien ermöglichen wird.

K. Günther

Chirurgische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen

Krankenhausstr. 12

91054 Erlangen

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