Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2004; 39(9): 519-520
DOI: 10.1055/s-2004-825900
Editorial
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Schmerztherapie in Kindheit und Alter

Pain Management in Children and in the ElderlyM.  Karst1 , S.  Piepenbrock1
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
30 August 2004 (online)

Schmerz kann in jedem Lebensalter auftreten, besonders aber an beiden Enden des Altersspektrums und besonders im Zusammenhang mit Operationen.

Das in der Entwicklung begriffene Nervensystem von Neugeborenen und Kleinkindern weist schon ab der 26. Schwangerschaftswoche eine fortgeschrittene Reifung peripherer, spinaler und supraspinaler afferenter Schmerzbahnen auf, aber noch kein funktionierendes Schmerzabwehrsystem, das sich erst zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt [1]. Das bedeutet, dass zum Zeitpunkt der Geburt eine deutlich gesteigerte Sensitivität gegenüber sensorischen Reizen und eine niedrigere Wahrnehmungsschwelle für mechanische und thermische Reize bestehen im Vergleich zur Situation bei Erwachsenen [2]. Hierin ist der Hauptgrund für die besonders hohe Sensibilität gegenüber traumatischen Einflüssen in dieser Altersgruppe zu sehen. Gleichzeitig finden sich als Antwort auf Gewebeverletzungen die gleichen spezifischen Reaktionsmuster und autonomen, hormonellen und metabolischen Zeichen einer Stressantwort des Organismus wie bei älteren Personen. Hinzu kommt, dass auch bei Kindern neurobiologisch begründete Lernprozesse einsetzen können, die zu einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber nozizeptiven und nicht-nozizeptiven Reizen oder zur Entwicklung chronischer Schmerzen führen können [1] [2].

Während vor 20 Jahren noch die fehlenden Kenntnisse der hier skizzierten Zusammenhänge zu einer unzureichenden Schmerztherapie bei Kindern beigetragen haben, sind heute vor allem die fehlende Schmerzerfassung und mangelhafte Organisationsstrukturen als Gründe für eine schmerztherapeutische Unterversorgung von Kindern zu nennen [3]. Mit Recht verweist Martin Jöhr deshalb auf die Bedeutung der regelmäßigen Schmerzerhebung als Grundpfeiler einer funktionierenden Schmerztherapie hin [4]. Dabei zeigt das Kinderspital Luzern, dass dies ausnahmslos bei allen Kindern möglich ist, auch bei unter Vierjährigen mit entsprechenden Fremdbeurteilungsinstrumenten. Laut einer 2001 publizierten Erhebung handeln danach leider nur 6 - 7 % der deutschen anästhesiologischen Kliniken, und etwa 72 % der befragten Anästhesisten hielten die Schmerztherapie bei Kindern in ihren Kliniken für verbesserungswürdig [5]. Angesichts von 300 000 Kindern unter 15 Jahren, die jährlich perioperativ schmerztherapeutisch behandelt werden müssten, zeigt sich das ganze Ausmaß der ungenügenden Situation der Akutschmerztherapie bei Kindern in Deutschland [3]. Wünschenswert wären insbesondere mehr spezialisierte Akutschmerzdienste, die aber selbst in der Erwachsenenwelt eher die Ausnahme als die Regel darstellen. An den Beispielen „Tonsillektomie” und „Zirkumzision” beschreibt Martin Jöhr, welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen eine „balancierte Analgesie” bei Kindern aufweist [4], wobei insbesondere der Einsatz von regionalanästhesiologischen Verfahren, von Steroiden und - möglicherweise in naher Zukunft - von COX2-Hemmern genannt werden, was sich so alles auch in der Akutschmerztherapie Erwachsener bestätigt findet [6] [7] [8]. In diesem Zusammenhang verdient der Erwähnung, dass sich die intravenöse Form des Paracetamols - das am sichersten geltende Nicht-Opioid-Analgetikum - auch in Deutschland in der Zulassung für Kinder befindet, eine Applikationsform, in der es sich bei Erwachsenen überraschenderweise als wirkungsvoller im Vergleich zur enteralen Verabreichung gezeigt hat. Sehr verdienstvoll ist, dass Martin Jöhr darauf hinweist, dass nicht nur auftretende Schmerzen, sondern auch psychische Belange einer dezidierten Aufmerksamkeit bedürfen und mit nicht-medikamentösen Verfahren erfolgreich behandelt werden können [1] [2] [4]. Dies spiegelt einmal mehr die Tatsache wider, dass Schmerz ein mehrdimensionales Problem darstellt, das nicht allein auf neurophysiologische Abläufe und ihre Kontrolle reduziert werden kann.

Die sechs häufigsten Erkrankungen bei älteren Menschen sind Gelenk- und Herzerkrankungen, Sehbehinderungen, Krankheiten der Blutgefäße sowie Hirngefäß- und Stoffwechselerkrankungen, alles Zustände, die mit akuten und chronischen Schmerzen verbunden sein können [9]. Allein in Deutschland leiden drei Millionen Menschen in einem Alter über 76 Jahren an erheblichen Beeinträchtigungen durch Gelenk- und Rückenschmerzen [3]. Der Einsatz von antiphlogistisch wirkenden COX2-Hemmern ist bei alten Menschen mit Herz- und Niereninsuffizienz und arterieller Hypertonie limitiert, der von traditionellen nicht-steroidalen Antiphlogistika zusätzlich, wenn gastrointestinale Probleme bestehen und Antikoagulantien eingenommen werden. Mit den Opioiden stehen stark wirksame Analgetika zur Verfügung, die nicht unmittelbar zu Organschäden führen. Der Beitrag von Enno Freye und J. V. Levy [10] hebt darauf ab, dass Opioide auch bei älteren Personen ohne Angst vor Komplikationen eingesetzt werden können, wenn die vor allem pharmakokinetisch begründete Wirkungsverlängerung und Wirkungsverstärkung berücksichtigt werden. Bei unveränderter Pharmakodynamik ist allerdings mit den gleichen opioidtypischen Störwirkungen zu rechnen wie bei jüngeren Individuen, ein Grund dafür, warum der perioperative Einsatz von systemisch eingesetzten Opioiden in Fast-Track-Konzepten nur noch einen begrenzten Stellenwert hat [11]. Völlig zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass bei der Opioidtherapie chronischer Schmerzen Multimedikation zu unkalkulierbaren Medikamenteninteraktionen führen kann. Mit durchschnittlich sechs verschiedenen Arzneimitteln bei alten Menschen ist die Multimedikation aber eher die Regel als die Ausnahme, zusätzlich ist mit einer hohen Rate an Non-Compliance zu rechnen [9]. Das Vorgehen nach dem Prinzip „start low, go slow” verbunden mit engmaschigen Kontrollen sowie die Ausnutzung nicht-medikamentöser Therapiekonzepte sind Grundregeln, die in solchen Situationen Beachtung finden müssen.

Literatur

  • 1 Berde C B, Sethna N F. Analgesics for the treatment of pain in children.  N Eng J Med. 2002;  347 1094-1103
  • 2 Howard R F. Current status of pain management in children.  J Am Med Assoc. 2003;  290 2464-2469
  • 3 Ostgathe C, Nauck F, Klaschik E. Schmerztherapie heute. Stand der Schmerztherapie in Deutschland.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2003;  38 312-320
  • 4 Jöhr M. Schmerztherapie bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern - therapieren wir immer ausreichend?.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2004;  39 521-526
  • 5 Bremerich D, Neidhart G, Roth B, Keßler P, Behne M. Postoperative Schmerztherapie im Kindesalter.  Anaesthesist. 2001;  50 102-112
  • 6 Block B M, Liu S S, Rowlingson A J, Cowan A R, Cowan J A, Wu C L. Efficacy of postoperative epidural analgesia: a meta-analysis.  J Am Med Assoc. 2003;  290 2455-2463
  • 7 Karst M, Kegel T, Lukas A, Lüdemann W, Hussein S, Piepenbrock S. Effect of celecoxib and dexamethasone on postoperative pain after lumbar disc surgery.  Neurosurgery. 2003;  53 (2) 1-6
  • 8 Buvandendran A, Kroin J S, Tuman K J, Lubenow T R, Elmofty D, Moric M, Rosenberg A G. Effects of perioperative administration of a selective cyclooxygenase 2 inhibitor on pain management and recovery of function after knee replacement: a randomized controlled trial.  J Am Med Assoc. 2003;  290 2411-2418
  • 9 Karst M. Hausärztliche Versorgung Hochaltriger und demenziell Erkrankter. 3.2. Pharmakotherapie. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.) Hochaltrigkeit und Demenz als Herausforderung an die Gesundheits- und Pflegeversorgung. Band III. Hannover; Vincentz 2002: 28-31
  • 10 Freye E, Levy J V. Einsatz der Opioide bei alten Patienten - Pharmakokinetische und pharmakodynamische Überlegungen.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2004;  39 527-537
  • 11 Kehlet H, Wilmore D W. Multimodal strategies to improve surgical outcome.  Am J Surg. 2002;  183 630-641

Priv.-Doz. Dr. med. Matthias Karst

Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover ·

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Email: Karst.Matthias@mh-hannover.de

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