Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2004; 39(10): 585-586
DOI: 10.1055/s-2004-826009
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die deutsch-türkischen Beziehungen in der Anästhesiologie

The Turco-German Relations in AnaesthesiologyJ.-P.  Jantzen, G.  Hempelmann
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Publication Date:
15 October 2004 (online)

In dieser Ausgabe der AINS findet sich der Beitrag einer türkischen Arbeitsgruppe aus der Thorax-Klinik Izmir [1]. Bedauerlicherweise handelt es sich dabei um eine Rarität, weil türkische Autoren unseres Fachgebietes bisher anderen Zeitschriften den Vorzug geben. Ein Blick in die einschlägige europäische Fachzeitschrift der Anästhesiologie - das European Journal of Anaesthesiology - ergibt für den Zeitraum Januar bis Juli 2004 zwölf Beiträge aus der Türkei. Bezogen auf den Gesamtumfang von 120 Veröffentlichungen im EJA in diesem Zeitraum beträgt der Anteil der Türkei 10 %! Dies reflektiert das hohe Niveau der anästhesiologischen Forschung in der Türkei und stetig zunehmende publizistische Aktivität. Anlass genug, einen Blick auf die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei zu werfen, von den militärmedizinischen Anfängen bis zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher und Türkischer Anaesthesiologen.

Ausgangspunkt der organisierten Deutsch-Türkischen Beziehungen war der Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen König Friedrich dem Großen und dem Osmanischen Reich aus dem Jahre 1761.

Die Zusammenarbeit auf medizinischem Gebiet begann im 19. Jahrhundert, von 1838 bis 1856 schwerpunktmäßig durch österreichische, zwischen 1869 und 1919 durch deutsche Ärzte gestaltet [2]. Die türkische Militärmedizin, deren Defizite während des Krim-Krieges offensichtlich geworden waren, wurde durch kaiserliche Sanitätsoffiziere nach deutschem Muster restrukturiert, parallel dazu nahm der deutsche Einfluss auf die Entwicklung der zivilen und der universitären Medizin zu.

Meilensteine waren die Gründung des Deutschen Krankenhauses Istanbul 1846 [3] sowie die der Medizinischen Militärakademie Gülhane 1898 (Gülhane Askeri Tip Akademisi; GATA) und der Medizinischen Fakultät Haydarpasa 1909. Beide Institutionen waren unter maßgeblicher deutscher Beteiligung aufgebaut worden und sind untrennbar mit dem Bonner Chirurgen Prof. Robert Rieder („Rieder Pascha”) und dem Lübecker Internisten Prof. Georg Deycke („Deycke Pascha”) verbunden. Im türkischen medizinhistorischen Schrifttum werden die Aufbaujahre der GATA zutreffend als „Rieder-Deycke Epoche” bezeichnet [4].

Rieder stand von 1898 bis 1904 in der Position des Generalinspekteurs der Kaiserlichen Osmanischen Medizinschulen in osmanischen Diensten [5]. Auf Betreiben Rieders wurde Französisch als Unterrichtssprache von 1904 an durch Deutsch abgelöst. Deycke und der Marburger Chirurg Prof. Wieting („Wieting Pascha”) traten nach 1904 Rieders Nachfolge an [6].

Hervorzuheben ist auch das Wirken von Prof. Dr. med. Ernst von Düring („Düring Pascha”), der 1889 auf den Dermatologischen Lehrstuhl der Universität Istanbul berufen wurde. Seine Aufgabe war die Bekämpfung der hereditären Syphilis, deren Verbreitung in Anatolien geradezu ungeheuerlich war.

Während des Nationalsozialismus gab es eine nicht unerhebliche Emigration medizinischer Wissenschaftler in die Türkei. Exemplarisch genannt seien der Pädiater Albert Eckstein, der Pharmakologe Werner Lipschitz, der Biophysiker Friedrich Dessauer und der Mikrobiologe Hugo Braun. Diese erhielten Anstellungen an den nach 1933 neu gegründeten Institutionen der Türkischen Kunst und Wissenschaft und wirkten - nachhaltig - als Nestoren ihres jeweiligen Fachgebietes. Eckstein war es während seiner 15-jährigen Tätigkeit in der Türkei gelungen, die Kindersterblichkeit von über 20 auf 12 % zu senken [7].

Die Anästhesiologie ist in der Türkei - wie in Deutschland - ein junges eigenständiges Fach. Die Türkische Gesellschaft für Anaesthesiologie und Reanimation (Türk Anesteziyoloji ve Reanimasyon Dernegi; TARD) ist 1956 gegründet worden. Begründer und langjähriger Präsident war Prof. Dr. Sadi Sun aus Istanbul, später auch Gründungsmitglied der European Academy of Anaesthesiology. Analog den Wissenschaftlichen Arbeitskreisen der DGAI erfolgte auch in der Türkei eine Subspezialisierung: Gegründet wurden Komponentengesellschaften für Intensivmedizin (1978), Schmerztherapie (1987), Regionalanästhesie (1990) sowie für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgische Anästhesie (1992).

Anfangs war die türkische Anästhesiologie USA-, england- und skandinavienorientiert. Eine gewisse Hinwendung zu Deutschland erfolgte bereits durch Sun, der nach einem Weiterbildungsaufenthalt in Kopenhagen längere Zeit bei Prof. Rudolf Frey in Mainz verbracht hatte.

Nach 1990 entwickelten sich die Deutsch-Türkischen Anästhesiebeziehungen zügig weiter. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass der Nachfolger von Sun im Präsidentenamt, Prof. Bora Aykac, seine Fachweiterbildung anteilig in Dortmund erhalten hatte. Am 18. 11. 1995 wurde in Antalya das Deutsch-Türkische Symposium „Ventilation of the Lung” durchgeführt, organisiert von den anästhesiologischen Kliniken der Universität Istanbul (Klinikum Capa, Prof. Kutay Akpir) und dem Klinikum Hannover Nordstadt sowie der Fa. Dräger.

1997 wurde das in Antalya vereinbarte DGAI-Projekt „Fellowship in Neuroanaesthesia” gestartet, federführend betreut durch die Universitätsklinik Bursa (Uludag Universität, Frau Prof. Oya Kutlay). Dieses Angebot ist bisher von 50 jungen türkischen Fachärztinnen und Fachärzten genutzt worden.

Per Beschluss des Präsidiums der DGAI war die TARD für den DAK-International 2000 als Partnergesellschaft ausgewählt worden.

2001 ist auf dem Deutschen Anästhesiekongress die Arbeitsgemeinschaft Deutscher und Türkischer Anaesthesiologen gegründet worden, heute eine Arbeitsgemeinschaft mit über 100 Mitgliedern. Seit 2002 gestaltet diese Arbeitsgemeinschaft auf jedem DAC zwei Sitzungen, bei der Jahrestagung der Türkischen Fachgesellschaft (Türk Anesteziyoloji ve Reanimasyon Kongresi, TARK) tritt die Deutsch-Türkische Arbeitsgemeinschaft darüber hinaus als offizieller Mitveranstalter auf.

Alle zwei Jahre erhält ein junger türkischer Kollege auf Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft das DGAI-Dräger-Stipendium, das einen Arbeits- und Forschungsaufenthalt von sechs Monaten an einer Klinik in Deutschland ermöglicht (derzeit in Frankfurt/M).

2004 wurde mit von der Arbeitsgemeinschaft eingeworbenen Drittmitteln die Möglichkeit für Forschungsaufenthalte mit dem Schwerpunkt Intensivmedizin geschaffen. Diese Möglichkeit wird derzeit von vier türkischen Kolleginnen an den Universitätskliniken Aachen (Projektleitung), Göttingen, Bonn und Jena wahrgenommen. Im Gegenzug ermöglicht die Universitätsklinik Antalya jungen deutschen Fachärzten eine Hospitation im Gebiet der klinischen Intensivmedizin.

Auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft ist es auch gelungen, der Türkei die Mitarbeit im Arbeitsausschuss „Anästhesiegeräte” des CEN (Comite Europeen de Normalisation/Europäische Behörde für Technische Normung) zu ermöglichen.

Viele der Anästhesiologen, die heute in der Türkei leitende Positionen bekleiden, haben mehrere Jahre in Deutschland verbracht, zwei türkische Ordinarien sind korrespondierende Mitglieder der DGAI. Darüber hinaus bestehen Partnerschaften zwischen Kliniken und Universitäten, so zwischen Bursa und Hannover bzw. Konya und Gießen.

Mit kaum einer anderen ausländischen Fachgesellschaft ist die Zusammenarbeit gleichermaßen eng und erfolgreich. Es wäre die natürliche - und wünschenswerte - Konsequenz, wenn sich das auch darin manifestiert, dass unsere Fachzeitschriften von türkischen Autoren zunehmend als Publikationsorgane angenommen werden.

Jan-Peter A. H. Jantzen, Hannover
Gunter Hempelmann, Gießen

Hannover und Gießen, im September 2004

Literatur

  • 1 Öztürk T, Cakan A, Gülerce G, Olgac G, Deren S, Özsöz A. Sedation for Fiberoptic Bronchoscopy: Fewer Adverse Cardiovascular Effects with Propofol than with Midazolam.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2004;  39 597-602
  • 2 Jantzen G. Deutsche Ärzte im osmanischen Reich 1838 - 1918. Ärztliches Wirken, Reformbestrebungen, Biographien. Istanbul; 1971
  • 3 Jantzen G. Das Deutsche Krankenhaus in Istanbul.  Dtsch Ärztebl. 1970;  67 696-698
  • 4 Titiz I. Gülhane ic hastaliklari klinikleri tarihi (1898 - 1953). Ankara University Medical Faculty Proceedings No. 93. 
  • 5 Rieder Pascha R. Medizinische Reformbestrebungen in der Türkei.  DMW. 1903;  50 956-959
  • 6 Wieting Pascha . Gülhane Festschrift zum 10-jährigen Bestehen des Kaiserlich Osmanischen Lehrkrankenhauses Gülhane. Leipzig; Thieme 1909
  • 7 Erichsen R. Die Türkei als Zufluchtsort. Emigration deutscher Forscher '33-'45.  Forschung - Mitteilungen der DFG. 1995;  2-3/95 33-35

Prof. Dr. med. habil. Jan-Peter A. H. Jantzen, DEAA

Chefarzt der Klinik für Anaesthesiologie und Intensivmedizin · Klinikum Hannover Nordstadt

Haltenhoffstraße 41 · 30167 Hannover

Email: jan-peter@jantzen.net

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