Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2004; 39(12): 709-710
DOI: 10.1055/s-2004-826179
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Traditionen in der Anästhesie

Traditional Procedures in AnesthesiaP.  Schmucker1
  • 1Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
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Publication Date:
16 December 2004 (online)

Können Sie sich noch erinnern? Es ist noch keine 20 Jahre her, da wurden Osteosynthesen bei polytraumatisierten Patienten nicht selten vom Anästhesisten zurückgestellt mit dem Argument, man könne diesen Patienten bei seiner ohnehin erheblich eingeschränkten Lungenfunktion auf keinen Fall in die zur Operation erforderliche Bauchlage bringen. Inzwischen wird die Lagerungsdrainage seit den bahnbrechenden Arbeiten von Gattinoni [1] als therapeutisches Prinzip bei Patienten mit akuter respiratorischer Insuffizienz eingesetzt und ist in diesem Zusammenhang wohl einer der entscheidenden Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte.

Was war das Problem? Es gab offenbar eine Art von intuitivem Konsens, dass die Bauchlage per se zu einer weiteren Verschlechterung der Lungenfunktion führe, eine Meinung, die allenfalls durch anekdotische Berichte zu stützen war. Sie wurde durch die auf genaueren Untersuchungen basierte Evidenz für die Mehrzahl der Patienten widerlegt.

Sowohl für die Medizin im Allgemeinen als auch für die Anästhesie im Besonderen lässt sich für dieses Phänomen eine Vielzahl von Beispielen anführen. So wurde Patienten mit akutem Myokardinfarkt bis weit in die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts strikte Bettruhe bis zu mehreren Wochen verordnet. Dieses Regime ist heute mit besten Ergebnissen weitgehend verlassen [2]. Anekdotischen Berichten zur Folge spielte dabei auch die Tatsache eine Rolle, dass aufgefallen war, dass diejenigen Patienten, welche das Gebot der Bettruhe durchbrachen, um auf der Toilette heimlich Zigaretten zu rauchen, sowohl eine niedrigere Mortalität als auch eine schnellere Erholung zeigten als die gehorsamen bettlägerigen.

Jahrzehntelang war es üblich, Patienten nach Spinalanästhesien oder Durapunktionen aus anderen Gründen eine Phase der Bettruhe zur Reduktion der Inzidenz postspinaler Kopfschmerzen zu empfehlen. Die pathophysiologischen Überlegungen dafür scheinen rational zu sein: Wenn man davon ausgeht, dass der überwiegende Anteil der postspinalen Kopfschmerzen auf dem Verlust von Liquor durch den punktionsbedingten Defekt der Dura beruht, so sollte sich durch die Reduktion des hydrostatischen Druckes auf diesem Defekt durch Übergang von aufrechter zu liegender Körperposition die Menge des durch den Defekt getretenen Liquors und damit die Inzidenz oder die Schwere der Kopfschmerzen reduzieren lassen. Einer prospektiven Überprüfung hält zumindest der letzte Teil der Hypothese nicht stand: Eine Abnahme der Inzidenz postspinaler Kopfschmerzen durch Flachlagerung lässt sich bei ansonsten standardisierten Bedingungen nicht zeigen [3]. Es gibt sogar Befunde, welche nahelegen, dass eher eine frühe Mobilisation nach Spinalanästhesie die Häufigkeit der Kopfschmerzen günstig beeinflusst [4].

Was haben wir Anästhesisten nicht an vermeidbaren Kosten verursacht durch von uns angeforderte präoperative Routineuntersuchungen, etwa Röntgenaufnahmen der Brustorgane ab dem 40. Lebensjahr oder durch vielerlei Laboruntersuchungen etc. Wie oft ist nicht der Operationstermin verschoben worden, weil ein Teil der angeforderten Untersuchungen nicht vorlag. In scharfem Gegensatz zu diesem Verfahren gibt es keinerlei Evidenz dafür, dass ein Routinescreening ohne Berücksichtigung von Anamnese und körperlichem Befund des Patienten irgendeinen Nutzen hat [5] [6]. Dies hat dazu geführt, dass die ASA im Jahr 2002 einen praktischen Ratgeber zur präoperativen Patientenbefundung herausgegeben hat, in welchem beispielsweise ein ärztliches Statement, nach dem der untersuchte Patient bestens in der Lage sei, seine Alltagsaktivitäten auszuüben, ohne weitere Maßnahmen als ausreichend für eine geplante minimalinvasive Operation angesehen wird [7].

Ein beliebtes Feld für Diskussionen mit Patienten und Operateuren ist das präoperative Nüchternheitsgebot. Auch hier wurde früher eine generelle Nüchternheit von 6 Stunden vor der Narkoseeinleitung unabhängig von der Art der zugeführten Nahrung kategorisch gefordert. Dies hat nicht nur dazu geführt, dass nicht selten wegen einiger Schlucke Wasser innerhalb dieses Zeitfensters der Operationstermin verschoben wurde. Auch jegliche Art von präoperativer Pharmakotherapie musste parenteral zugeführt werden, und den Älteren unter uns sind noch die Tabletts mit einer Vielzahl von Prämedikationsspritzen geläufig, die jeden Morgen auf einer operativen Station aufgezogen und mit dem Namen des Patienten beschriftet wurden. Man darf davon ausgehen, dass intramuskuläre Injektion der Prämedikation durchaus auch einmal zu Komplikationen geführt hat, verbunden mit der entsprechenden Morbidität und damit auch Kosten. Grundlage dieses Postulates war das Bestreben, zum Zweck der Vermeidung von Regurgitation und Aspiration eine Anästhesie nur bei vollkommen leerem Magen einzuleiten und die Vermutung, dass ein möglichst niedriges Volumen des Magensaftes bei möglichst hohem pH nur durch dieses Vorgehen zu erreichen sei. Neuere Untersuchungen stützen diese Vermutung nicht. So scheint die Einnahme von klaren Flüssigkeiten bis zu 2 Stunden vor Einleitung in der Anästhesie keinerlei negativen Einfluss auf diese Parameter auszuüben [8]. Diese Erkenntnis hat bereits 1999 zu entsprechenden Empfehlungen der ASA geführt [9]. Ohnehin ist die orale Gabe der präoperativen anxiolytischen Medikation zusammen mit einigen Schlucken Wasser seit Jahren ebenso üblich wie die Fortführung der antihypertensiven und antianginösen Medikation des Patienten über den Operationszeitpunkt hinweg bei entsprechender präoperativer oraler Einnahme der Präparate zusammen mit der Anxiolyse.

Dies sind Beispiele dafür, dass es notwendig werden kann, aufgrund neuer Erkenntnisse auch mit langjährig liebgewordenen Traditionen zu brechen. Was lange Zeit für Wahrheit gehalten wurde, kann sich aufgrund einer neuen Datenlage als Irrtum herausstellen. Eines aber ist dabei entscheidend: Leitlinien und Empfehlungen sollten unbedingt den Richtlinien der Evidence Based Medicine folgen. Kasuistiken und vage Meinungen helfen hier nicht weiter.

Literatur

  • 1 Gattinoni L, Pelosi P, Vitale G. et al . Body position changes redistribute lung computed tomographic density in patients with acute respiratory failure.  Anesthesiology. 1991;  74 15
  • 2 Boyle J A, Lorimer A R. Early mobilisation after uncomplicated myocardial infarction. Prospective study of 538 patients.  Lancet. 1973;  2 346
  • 3 Jones R J. The role of recumbency in the prevention and treatment of postspinal headache.  Anesth Analg. 1974;  53 788
  • 4 Thornberry E A, Thomas T A. A controlled trial in 80 obstetric patients.  Br J Anaesth. 1988;  60 195
  • 5 Kaplan E B, Sheiner L B, Boeckmann A J. et al . The usefulness of preoperative laboratory screening.  JAMA. 1985;  253 3576
  • 6 Turnbull J M, Buck C. The value of preoperative screening investigations in otherwise healthy individuals.  Arch Intern Med. 1987;  147 1101
  • 7 Practice Advisory for Preoperative Evaluation . A report by the American Society of Anesthesiologists Task Force on Preanesthetic Evaluation.  Anesthesiology. 2002;  96 485
  • 8 Spies C D, Breuer J P, Gust R. et al . Präoperative Nahrungskarenz. Ein update.  Anaesthesist. 2003;  11 1039
  • 9 Practice Guidelines for Preoperative Fasting and the Use of Pharmacologic Agents to Reduce the Risk of Pulmonary Aspiration . Application to Healthy Patients Undergoing Elective Procedures. A Report by the American Society of Anesthesiologists Task Force on Preoperative Fasting.  Anesthesiology. 1999;  90 896

P. Schmucker

Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

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