Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55(2): 84-85
DOI: 10.1055/s-2004-834595
Aus dem DKPM
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nachruf auf Prof. Dr. Thure von Uexküll

Obituary Thure von Uexküll - A Pioneer of Psychosomatic MedicineWerner  Geigges
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Publication Date:
04 January 2005 (online)

Am Morgen des 29. September 2004 starb Thure von Uexküll im Alter von 96 Jahren in seinem Freiburger Haus auf der Sonnhalde, liebevoll begleitet bis zuletzt von seiner Frau.

Nach kurzer heftiger Krankheit sah er seinem Tod gelassen entgegen und nahm bewusst Abschied von Familie, Freunden, Schülern und Mitstreitern. Noch neun Tage vor seinem Tod nahm er an einer Sitzung der Gruppe „Reflektierte Kasuistik” in seiner Wohnung teil und bestand darauf, einen neuen Termin zu vereinbaren. Ihm war wichtig, dass seine Vision einer psychosomatischen Fundierung der gesamten Medizin als sein Vermächtnis weitergetragen wird.

Das Deutsche Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM) und die Akademie für Integrierte Medizin (AIM) verlieren mit Thure von Uexküll einen Gründungsvater und die Psychosomatische Medizin eine große Arztpersönlichkeit, einen genialen Forscher und Lehrer. Seine persönliche Geschichte ist gleichzeitig wesentlicher Teil der Geschichte der deutschen Psychosomatik.

Thure von Ueküll wurde 1908 in Heidelberg geboren; dort, in Hessen und Pommern aufgewachsen, kam er 1925 nach Hamburg, wo sein Vater das Institut für Umweltforschung leitete. Der interaktionelle Umweltbegriff seines Vaters - eine avantgardistische Vorwegnahme moderner systemtheoretischer und kybernetischer Ansätze und ein frühes semiotisch begründetes Modell subjektiver Wirklichkeitskonstruktionen - prägten sein Denken und seine Theoriebildung nachhaltig. 1944 publizierte er zusammen mit seinem Vater sein erstes Buch. Wenige Tage vor seinem Tode fasste er, ganz bezogen auf dieses väterliches Erbe, den wesentlichen Aspekt seines eigenen Theoriemodells noch einmal zusammen: „Wir müssen begreifen, dass die Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt Zeichencharakter tragen und nicht mechanistisch zu begründen sind.”

Nach dem Staatsexamen 1935 hatte vor allem Gustav von Bergmann an der Berliner Charité und später in München Vorbildfunktion für seine Vision einer nichtdualistischen Heilkunde. Von Bergmanns praktiziertes Modell einer medizinischen Anamnese im Sinne einer Integration von somatischen und psychosozialen Zeichensystemen bildete neben der psychoanalytischen Ausbildung das Fundament für Thure von Uexkülls Intention, gemeinsame Wirklichkeiten in Arzt-Patienten-Beziehungen aufzubauen und den jeweiligen Behandlungsauftrag zu reflektieren.

Später wurde dieses Modell im Sinne George Engels von ihm und seinen Mitabeitern, vor allem in Ulm, weiterentwickelt. Die Technik der biopsychosozialen Anamnese bleibt bis heute ein zentrales Modul einer psychosomatischen Medizin als Integrierte Medizin und wurde vor allem in den 70er-Jahren begeistert von vielen studentischen Anamnesegruppen aufgegriffen, die sich zum Teil bundesweit in der Bewegung einer patientenorientierten Medizin (POM) organisierten.

1955 wurde Thure von Uexküll Direktor der Medizinischen Universitätspoliklinik in Gießen. In diesen Gießener Jahren übernahm er mehr und mehr die Rolle eines unerschütterlichen Reformers medizinischer Fakultäten und insbesondere des Studentenunterrichts. In Gießen bezog er Medizinische Soziologie und Psychoanalyse in die medizinische Forschung und Lehre ein. Er engagierte sich in der Gründungsphase der Medizinischen Fakultät der Universität Aachen und war schließlich Mitglied der Gründungskommission der Universität Ulm. Hier setzte er sich für eine Reorganisation der Fakultätsstrukturen in Richtung auf ein demokratischeres und kooperativeres Departmentsystem ein, wobei er versuchte, gleichzeitig Spezialisierung und Reintegration zu fördern. 1970 gelang ihm die Einführung der Fächer Psychosomatik und Psychotherapie, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie in die ärztliche Approbationsordnung (ÄAO). Diese Neuerung erwies sich als sehr wirksam und folgenreich. 30 Jahre später werden in der neuen Approbationsordnung die biopsychosozialen Aspekte von Krankheit im Wesentlichen bestätigt. Jahrzehnte zuvor in Ulm entwickelte Modelle einer daran orientierten Didaktik in patientenorientierter Medizin werden in Reformstudiengängen wieder aufgegriffen.

Thure von Uexkülls Reformoptimismus ließ sich auch durch massive Widerstände nicht bremsen, er fand stets neue Foren für seine Ideen und Pläne. So kam es in einer schwierigen Phase des Ulmer Reformprozesses 1973 zur Gründung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin. Mit dem Scheitern seiner utopischen Idee einer Reformfakultät mit seiner Emeritierung 1976 initiierte er das Lehrbuchprojekt „Psychosomatische Medizin” mit der ersten Auflage 1979.

In all diesen Projekten deutete sich ein weiterer Grundzug des von-Uexküll-Programms an, sein Begegnungsaspekt: Wissenschaft durch und in kommunikativen Netzwerken. Viele seiner zentralen Ideen einer psychosomatischen Medizin entwickelte er in einer der zahlreichen Gruppenprojekte, die er im Laufe seines Lebens initiierte. In ihrer charakteristischen Arbeitsweise spiegelte sich das, was sie thematisch bearbeiteten:
Sie beinhalteten ein konkretes und nicht selten zum Teil jahrelanges Ringen um eine gemeinsame Wirklichkeit und gemeinsame Sprache. Uexkülls geniale Fähigkeit, Ideen zu integrieren und in zentralen Begriffen zu organisieren, erwies sich als zentraler Motor des kreativen Gruppenprozesses. Analog zur kommunikativen Anstrengung in der Arzt-Patienten-Beziehung ging es im Gruppendiskurs darum, über „geteilte Ikonizität” auch gemeinsame symbolische Wirklichkeiten zu schaffen. Vieles erinnerte in diesen Gruppenprozessen an die „Schwarm-Intelligenz” der Biologen. Diese kommunikativen Netzwerke hatten, wie Reinhard Plassmann es einmal nannte, neben ihrem kreativen immer auch einen dissidenten Aspekt: die meisten Projektmitarbeiter konnten mit der dualistischen Medizin keine ausreichend gemeinsame Wirklichkeit mehr bilden.

Beispielhaft genannt sei die interdisziplinäre Herausgebergruppe der Conditio-humana (1970 - 1974) im Fischer-Verlag, in der alle 41 Bände in Lektoratssitzungen interdisziplinär besprochen wurden. Die Problemstellungen, die Thure von Uexküll in seiner 1963 veröffentlichten Monografie „Grundfragen der Psychosomatischen Medizin” skizzierte, konnten in diesem Zirkel kreativ weitergedacht werden. Ein anderes Beispiel ist die Herausgebergruppe des zwischenzeitlich in 6. Auflage 2003 rechtzeitig zu seinem 95. Geburtstag erschienenen Lehrbuchs „Psychosomatische Medizin”. Auch diese jetzt über 28 Jahre bestehende Gruppe war stets geprägt von seiner Idee, sowohl Multiperspektivität, wie auch gemeinsame Denk- und Handlungsmodelle zu entwickeln, die sich ihrerseits sowohl am konkreten Patientenproblem wie den Ergebnissen der Grundlagenforschung zu bewähren hatten.

Das letzte kommunikative Netzwerk, das er initiierte, war die 1992 gegründete Akademie für Integrierte Medizin (AIM). Wiederum war es von Uexkülls geniale Integrationsfähigkeit, die eine drohende Schieflastigkeit in der Entwicklung des psychosomatischen Feldes in Deutschland ausmachte: Die Psychosomatische Medizin hatte sich zwischenzeitlich als medizinisches Fach an deutschen Hochschulen mehr oder weniger fest etabliert und hatte im DKPM eine bewährte institutionelle Struktur gefunden, die eigenen, vorwiegend empirisch orientierten Forschungsansätze und Ergebnisse zu diskutieren. Für von Uexküll war Psychosomatik immer auch ein Metamodell einer Humanmedizin, sein Ziel eine biopsychosoziale Fundierung der Medizin, in der die subjektive Wirklichkeit des Patienten und damit auch des Arztes nicht ausgeblendet werden. Das 1988 zusammen mit Wolfgang Wesiack herausgegebene Buch „Theorie der Humanmedizin” markierte diesen Anspruch am deutlichsten nach außen und löste zum Teil heftige Kontroversen aus.

Mit der AIM sollte eine Plattform für alle jene Mediziner geschaffen werden, die in ihrem ärztlichen Alltag eine Integration somatischer und psychotherapeutischer Ansätze versuchten und dafür ein Metamodell brauchten, um den herrschenden Dualismus in ihrer Person und institutionell zu überwinden. Als methodischer Ansatzpunkt der interdisziplinären Zusammenarbeit von Praktikern, Klinikern und Hochschullehrern fand sich ein innovatives Fallverständnis im Sinne der „reflektierten Kasuistik”. „Die Medizin in unserem Land ist nur deshalb einigermaßen akzeptabel, weil die einzelnen Ärzte in ihrem konkreten Handeln, nicht oder nur partiell, nach dem offiziellen Modell der an der Universität gelehrten Schulmedizin handeln”, diese Bemerkung von Uexkülls war Ausgangspunkt für ein didaktisches Modell, das Ärzte dabei unterstützen sollte, ihre konkrete Arbeit zu beschreiben und kritisch zu reflektieren, damit ihre oft unreflektierten, vorbewussten Handlungstheorien bewusste Entscheidungsmodelle werden, die sich am gemeinsamen Behandlungsauftrag orientieren. Theoretische Grundlage dieser Modellwerkstätten war ein radikal konstruktivistischer Denkansatz, verbunden mit der Vorstellung lernender Modelle. Thure von Uexkülls Freiburger Haus wurde in den zehn Jahren seit Gründung der AIM zeitweilig ein Ort ständiger Arbeitsgruppentreffen, so kam er seiner Vision einer „Privatuniversität” im hohen Alter doch noch recht nahe.

Von Uexkülls theoretisches Modell, welches in seinen kommunikativen Netzwerken immer wieder reflektiert und erweitert wurde, besteht in einer kunstvollen und innovativen Verknüpfung dreier in sich selbstständiger Theoriefäden:
Konstruktivismus, Systemtheorie und Semiotik. Der Wert dieses Modells liegt weniger in seiner Validität, sondern wie es A.-E. Meyer einmal nannte, in seiner Heuristik: Thure von Uexküll verstand es selbst immer als orientierende Landkarte, die Integrationsräume öffnen hilft und uns noch für Jahre Stoff zu Diskussionen und Auseinandersetzungen liefern wird.

In der aktuellen Situation unseres Gesundheitswesens, in der Ärzte mehr und mehr zu passiven Teilnehmern eines ökonomischen Systems werden, können wir uns alle etwas von seinem hartnäckigen und kämpferischen Mut wünschen. Wir werden ihn brauchen, um die von ihm und uns allen geschaffenen Inseln psychosomatischen Denkens und Handelns in unserer Medizin zu erhalten und zu erweitern.

In unserem Denken und Handeln wird Thure von Uexküll weiter bei uns sein.

Werner Geigges
im Namen der Akademie für Integrierte Medizin und des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin

Dr. med. Werner Geigges

Rehaklinik Glotterbad

79286 Glottertal

Email: w.geigges@rehaklinik-glotterbad.de

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