intensiv 2006; 14(1): 23-32
DOI: 10.1055/s-2005-858913
Pflegewissenschaft

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pflegeverständnis der Intensivpflege - ein theorie- und praxisbasierter Entwurf[ 1]

Heiner Friesacher1
  • 1Langwedel
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Publication Date:
18 January 2006 (online)

Einleitung

Die Beschäftigung mit Grundüberlegungen zum Verständnis pflegerischen Handelns gehört spätestens seit Beginn der Professionalisierung und Akademisierung vor ca. 15 Jahren auch in Deutschland zu den schwierigsten und umstrittensten Themen innerhalb der Pflegewissenschaft. In der Intensivpflege gibt es die Debatte um eine Verortung und ein Verständnis der Intensivpflege ebenfalls, sichtbar vor allem an den Diskussionen um die Neukonzeption und Neuorientierung der Fachweiterbildung Intensivpflege in einigen Bundesländern. Nun könnte man einfach auf dem Standpunkt stehen, dass diese ganze Diskussion wenig fruchtbar ist und in anderen Fächern, wie z. B. der Medizin und der Psychologie, auch gar nicht so vehement und offen geführt wird. Diese Disziplinen kommen scheinbar auch ohne diese manchmal anstrengende und mitunter quälende Debatte sehr wohl ihrer professionellen Tätigkeit Tag für Tag nach. Also sollte man einfach „seinen (oder ihren) Job machen” und einer Grundlagendiskussion aus dem Wege gehen? Ich glaube nein. Die Krise und die Kritik an der modernen Medizin sind nicht zuletzt auf einen Mangel an differenzierter und kritischer Reflexion über die theoretischen Grundlagen der eigenen Disziplin zurückzuführen (vgl. [1]). Die Pflege und mit ihr die Intensivpflege haben noch eine ganz andere Problematik zu bewältigen: Sind wir nicht in der Lage, ein eigenes, theoretisch fundiertes und empirisch „gesättigtes” Pflegeverständnis zu entwickeln, so werden wir weiterhin (wie schon seit langem) ein fremdbestimmtes Konzept pflegerischen Handelns umsetzen. Die Ausführungen im Pflegeversicherungsgesetz oder früheren Weiterbildungskonzeptionen der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) zeigen, von welcher Fremdbestimmung hier die Rede ist. Ökonomie und Medizin waren und sind die starken Kräfte, die die Pflege in eine unliebsame und für die Pflegenden und Patienten unbefriedigende Rolle gezwängt haben. Dass diese Fremdbestimmung kein deutsches, sondern ein internationales Phänomen ist, wird in einschlägigen Untersuchungen detailreich belegt [2] [3].

Die folgenden Ausführungen bauen folgendermaßen aufeinander auf: In einem ersten Teil wird, ausgehend von verschiedenen Annäherungen an den Begriff Pflege, eine zweigeteilte Konzeption von Intensivpflege vorgestellt. Eine weit verbreitete Definition schließt sich an und rundet den ersten Teil ab. Wesentliche Einflüsse auf das Verständnis der Intensivpflege gehen von der Intensivmedizin und der Technikentwicklung aus, die in diesen Feldern vorherrschende Sichtweise soll deshalb in ihrer Bedeutung für das Verständnis der Intensivpflege aufgezeigt werden. Daran schließt sich die Darstellung einiger grundlegender Entwicklungen in der Pflege und Pflegewissenschaft an. Vor allem die ältere Theorieentwicklung und deren Bezug zur Intensivpflege werden aufgezeigt. Dabei wird beispielhaft auf einige Kritikpunkte an der Theorie von Orem hingewiesen und vor einer unkritischen Übernahme von Pflegetheorien/-modellen gewarnt.

Die folgenden beiden Abschnitte dienen zur Grundlegung eines Pflegeverständnisses der Intensivpflege, wobei zunächst die Praxis intensivpflegerischen Handelns rekonstruiert wird und in einem letzten Teil einige neuere Theorieentwürfe skizziert werden. Das hier entwickelte Pflegeverständnis versteht sich als Versuch einer Integration unterschiedlicher Sichtweisen, die in einer pflegespezifischen, praxis- und theoriebasierten Perspektive gebündelt werden.

1 Der vorliegende Artikel stellt eine erweiterte Fassung meines Beitrags „Pflegeverständnis” in: Ulrich L, Stolecki D, Grünewald M (Hrsg). Intensivpflege und Anästhesie. Stuttgart: Thieme, 2005, dar.

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1 Der vorliegende Artikel stellt eine erweiterte Fassung meines Beitrags „Pflegeverständnis” in: Ulrich L, Stolecki D, Grünewald M (Hrsg). Intensivpflege und Anästhesie. Stuttgart: Thieme, 2005, dar.

Heiner Friesacher

Pflegewissenschaftler und Dipl.-Berufspädagoge, Fachkrankenpfleger für Intensivpflege

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