Balint Journal 2005; 6(2): 47-49
DOI: 10.1055/s-2005-864169
Historie
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Zur Geschichte der Silser Studienwoche

A. Trenkel
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Publication Date:
29 June 2005 (online)

Die Silser Studienwoche wurde 1962 von Oswald Meier, Allgemeinpraktiker am Ort, gegründet. Sie wurde in der Folge jedes Jahr durchgeführt und diente der psychosomatischen Fortbildung interessierter Ärzte. Im Programm wurden Referate und Kurse (autogenes Training, Selbsterfahrungsgruppe etc.) angeboten.

1963 war Michael Balint erstmals dabei; Oswald Meier hatte ihn im Vorjahr bei Boris Luban in Grono kennengelernt.

Balint war kein Freund eines Ausbildungsbetriebes mit Referaten, sondern wollte den Teilnehmern praktisch zeigen, wie er in London mit seiner Pioniergruppe arbeitete. Es kam zu einem jahrelangen Seilziehen („Strukturdiskussionen”) im Silser Organisationsteam, bis ab 1970 keine Referate mehr auf dem Programm figurierten.

Hans Knoepfel hat 1986 in einem Referat in Hahnenklee die Geschichte dieser Anfänge mit Balint und die weitere Entwicklung nach dessen Tod dargestellt; zugleich hat er im Rückblick eine persönliche Bilanz gezogen. Sein damaliger Text (nach Stichworten zur Vorgeschichte, die ich hier etwas präziser formuliert habe) lautet:

 „1964 habe ich sehr wahrscheinlich ein erstes Referat in Sils gehalten. 1965 beginne ich meine erste Balint-Gruppe in Wetzikon, 20 km von Zürich. In Sils beginnen wir mit Balint, seine Gruppenführung zu besprechen; Trenkel, Rohr, Luban kommen dazu. Die Schweizerische Gesellschaft für Psychosomatische Medizin übernimmt das Patronat der Silserwoche, die noch selbständig bleibt. Ich vertrete diese Gesellschaft in Sils, wo es freundschaftliche aber auch harte Diskussionen mit Balint gibt, der alles nach seiner Richtung, ohne Referate, organisieren will. Als Vorstandsmitglied und Delegierter für postgraduale Ausbildung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin bin ich an deren Beschlüsse gebunden und kann nicht frei schalten und walten.

1967 kann Balint nicht kommen, ich vertrete ihn, halte noch dazu ein Referat zur Technik der analytischen Psychotherapie, d. h. spiele ein Tonband und bespreche es.

Es haben in diesen Jahren auch noch Selbsterfahrungsgruppen mit Prof. Friedemann stattgefunden, dazu Referate von Hr. Wittich, Fr. Prof. Dührssen, Balthasar Staehelin, Fritz Meerwein, Gion Condrau, um einige herauszugreifen. 1968/69 kam Balint wieder, und es bildete sich die Struktur mit 2 Grossgruppen am Vormittag, anschliessender Besprechung mit Balint, einer Kleingruppe am Nachmittag und einer Abenddiskussion heraus. Versuche, Balint als Coleiter einzusetzen, was er vorschlug, gelangen wie zu erwarten nicht, er bekam die Leitung automatisch. In der Kleingruppe machte jeder, was er für Balintarbeit hielt; Schutzengel halfen. Balint fand, wir sollten 1971 die Silserwoche alleine machen. Er starb am 31.12.70.

1971 schlug ich vor, ich sollte nicht Nachfolger von Balint werden, sondern Umstellung auf ein Team im Sinne einer modernen Führung, ich sei bereit Vorsitz zu übernehmen.

Neue Struktur: Oswald Meier Direktion als Gründer, seine Frau half bei Administration. Knoepfel Vorsitz des Leiterteams, sozusagen der fachlich Verantwortliche. Leiter: Trenkel, Rohr, Furrer, Weber, Labhardt, Friedemann, Beck, sowie Sapir (Paris). Ich setzte als Schwerpunkt die Leiterausbildung; nur wenn wir gute Leiter heranziehen können, wird sich die Balintarbeit durchsetzen, war mein Leitgedanke.

Ich übernahm die beiden Großgruppen vom Montag und die letzte vom Samstag, aber sonst wurde gewechselt in der Großgruppenleitung wie in der Leitung der Abenddiskussion. Dies sollte unser Leiterteam bilden, was gelungen ist.

Dann wurden systematisch Nachwuchsleiter eingeladen. Bedingungen waren beendete psychotherapeutische Ausbildung mit Lehranalyse, Kontrollfällen und Kursen, Fähigkeit sich klar auszudrücken und Bereitschaft, sich auf Hausärzte umzustellen, d. h. Verzicht auf psychologische Rationalisationen. Die Co-Leiter wurden während 4 Jahren je einem andern Kleingruppenleiter zugeteilt, der später mit ihnen die Kleingruppe besprach. Sie nahmen an der Gruppenleiterbesprechung 11.30 - 12.30 teil, die der Leiterweiterbildung diente. In Großgruppen wurden sie nicht eingesetzt. Nach Bedarf von Sils wurden einzelne Co-Leiter ins Leiterteam berufen.

1977 wurden Strukturen und Protokolle fixiert, schon früher über Co-Leiter am Ende jeder Woche Qualifikationsgespräche geführt, ob man sie wieder einlade (was meist der Fall war), wo ihre Stärken und ihre Schwächen lägen, bei wem sie mit Vorteil das nächste Mal eingesetzt werden sollten.

Gemäß meinem Schwerpunkt auf der Leiterausbildung betreute ich die Co-Leiter selbst und werde es noch 1988 machen, dann geht diese Aufgabe an Gfeller.

Es wurde von mir eine Weiterbildung in Bern, 2mal pro Jahr ein halber Tag mit freien Diskussionen, versucht, die etwas einschlief.

1980 nach einer Grundsatzdiskussion über die Zukunft von Sils übernahm Gfeller, der die Silser Ausbildung durchlaufen hatte und ins Leiterteam berufen wurde, die Berner Weiterbildung. Er stellte um auf Tonbandbesprechungen von Balint-Gruppen, verschickte vorher Transkripte und führte dies seither regelmäßig zweimal pro Jahr durch. Diese Veranstaltung wurde zu einer gesamtschweizerischen Weiterbildung für Balint-Leiter. Es kommen auch Kollegen, die nicht über Sils zur Balint-Arbeit gekommen sind. Heute arbeiten in der Schweiz rund 50 Gruppen, die Hälfte der Leiter hat den Silser Lehrgang absolviert. 1981 trat Oswald Meier als Direktor zurück, Klaus Rohr übernahm die organisatorische Leitung, seine Frau hatte 1980 die Administration übernommen. Dies brachte einen großen Fortschritt in der Effizienz unserer Organisation, der Übergang konnte nicht ganz spannungslos gelöst werden. Wir anerkannten immer die Pionierleistung von O. Meier, aber das Organisatorische wuchs ihm etwas über den Kopf wie oft verdienten Pionieren, und fachtechnisch fühlte er sich von mir an die Wand gedrückt, was wohl zutraf.

Meine Rolle als Vorsitzender und ursprünglich fachtechnischer Leiter wurde zusehens weniger alleintragend, da sich meine Freunde Trenkel und Rohr große Erfahrungen und internationale Anerkennung - Trenkel in Deutschland und Frankreich, Rohr in Frankreich und Italien - erwarben. Luban hatte, angeregt vom Silser Modell, seine Arbeitstagung in Ascona entwickelt und trat 1985 aus dem Leiterteam zurück, da er zu sehr beschäftigt war. Sapir hatte schon vorher eine ähnliche Tagung in Frankreich, zuerst Divonne, dann Annecy, aufgebaut, und ich hatte 1975 mit Trenkel zusammen in Hahnenklee begonnen.

1986 nach der Silserwoche kam mein Rücktritt als Vorsitzender des Leiterteams. Trenkel wird die Leitersitzung (11.30 - Besprechung der Großgruppe) leiten, Rohr die Direktion weiterführen, ev. auch Leitersitzungen mal für eine Woche präsidieren. Ich werde noch 1987/88 die Co-Leiter betreuen und im übrigen jetzt als Gruppenleiter ohne besondere Aufgaben weiter mitarbeiten. Gfeller wird 1988 die Co-Leiterbetreuung übernehmen.

Ich glaube mein Ziel ist erreicht, nach dem Ausscheiden von Balint ein Team und eine Ausbildung für Leiter aufzubauen und so der Balintarbeit eine breite und zukunftsträchtige Basis zu sichern. Unter M. Balint war die Arbeit demonstriert worden, und die erste Leitergruppe wurde noch von ihm angeregt und geformt.

Erfahrungen, die ich besonders hervorheben möchte: Anfangs hatten wir große Angst vor der Grossgruppe. Beck, der leider früh starb, half uns da viel, aber auch die gegenseitige Besprechung, Stützung und Kritik. Die Körpersprache kam mehr zur Geltung, auch körperliche Einfühlungen wurden in die Gesamtdiagnose einbezogen. Immer war in der Grossgruppe die Gefahr, dass die Hausärzte durch wilde Spekulationen von Psychotherapeuten dominiert werden. Wir lernten, dass nie zwei Psychotherapeuten hintereinander sprechen sollten. Jeder hat ein anderes Konzept des Falles, und so vernichtet der zweite meist das Votum des ersten. Zudem muss der Gruppenleiter den Fall so bearbeiten, wie er ihn versteht. Ein anderes Verständnis, d. h. eine andere Arbeitshypothese, die von aussen gebracht wird, nützt da meist wenig und führt leicht zu Rationalisationen und Spekulationen. Psychodynamik dozieren hilft wenig, aber wenn es gelingt, Konflikt, Abwehr und Wiederholung in der Arzt-Patientenbeziehung am Material, das die Teilnehmer vortragen, zu zeigen, dann wird man verstanden. Ich vertrat eher eine psychodynamische Richtung, Trenkel ist mehr ganzheitlich orientiert, Rohr steht eher in der Mitte. So gab es viele freundschaftliche Streitigkeiten, aber auch mal energische, von denen wir alle viel lernten.

Die freundschaftliche Spannung zwischen Trenkel und mir half uns und wohl der Tagung. Er warf mir Dozieren vor, ich ihm zu wenig Klarheit, aber beide schätzten die Arbeit des Anderen, und mir half es, weniger professorale Vorträge zu halten, während er sich oft klarer ausdrücken konnte, wenn ich darauf bestand. Es zeigte sich, dass Großgruppen und Leiterbesprechung (11.30) ruhiger und arbeitsamer wurden, wenn man konsequent bei der Beziehung blieb. Kam man in psychodynamische Spekulationen, gab es meist auch unter den Leitern ein Chaos. Dann mühten wir uns immer wieder, Deutungen der Situation, der Beziehung, durch Beobachtungen zu beweisen oder durch Beobachtungen zu widerlegen; nur intuitive Diagnose versuchten wir zu vermeiden.

Spannungen waren bei diesem Führungsstil nicht zu vermeiden. Es gab zwar keine ausgesprochenen Nachfolgekämpfe, weil ich nicht Nachfolger von M. Balint sein wollte. Ich wusste, das konnte ich nicht, und selbst wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich es nicht getan. Wenn ein Pionier autoritär gewirkt hat - anders kann ein Pionier nicht wirken, durch sein überlegenes Können wird er immer zur Autorität - dann ist ein Nachfolger die Einladung zum Rivalenkampf auf unreifer Ebene. Man muss dann auf einen modernen Führungsstil mit einem geleiteten Team umstellen, Spannungen produktiv austragen, diskutieren, bis eine überzeugende Lösung auftaucht, oder Konflikte, die man nicht lösen kann, immer wieder ansehen. Ein ständiger Konflikt war, ob man viele Junge einladen oder lieber in einer vertrauten Gruppe bleiben solle, Ausbildung gegen Freundeskreis. Sollen Gäste eingeladen oder lieber Junge gefördert werden. Sollen die Co-Leiter in die Großgruppen oder wollen wir möglichst gute Großgruppen im Interesse der Teilnehmer. Wir fanden, die Großgruppenleitung gehöre nicht in die Silser Ausbildung. Unser Ziel ist Gruppenleiter auszubilden, die mit Balint-Gruppen gute Arbeit leisten können. Die Großgruppe dient der Weiterbildung der erfahrenen Leiter und den Teilnehmern, damit sie einmal unverbindlich zusehen können und vor allem damit sie andere Leiter als ihre bekannten bei der Arbeit sehen und so mit Vorbild von verschiedenen Arten der Gruppenleitung ihren eigenen Stil finden sollten. So erfolgte mein Rücktritt aus der Leitung Ende 1986 zu meiner Entlastung, aber auch aus der Einsicht, dass Verantwortung auch weiterbildet und meine Freunde nun mehr als reif für diese Verantwortung waren. Man muss eben zurücktreten, wenn es noch etwas weh tut.”

(soweit aus dem Referat von Hans Knoepfel in Hahnenklee zur Geschichte von Sils vom 13. Februar 1986)

Mit seinem „Rücktritt, wenn es noch etwas weh tut” war Hans Knoepfel einmal mehr unser „primus inter pares”; Klaus Rohr ist seinem Beispiel 1996 gefolgt, Walter Furrer und ich haben uns im September 2000 verabschiedet.

Ich habe damals meine eigene „Silser-Bilanz” in einem Einführungs-Vortrag darzustellen versucht, wobei ich bemüht war, die Spezifität unserer Arbeit nicht nur im Hinblick auf den erlebenden Patienten, sondern ebenso auf den wahrnehmenden Therapeuten zu verdeutlichen und diese „unorthodoxe Oeffnung” auch mit der raum-zeitlichen Spezifität unseres Erlebens in Sils in Bezug zu setzen. (Ich verweise auf meinen Text, der in dieser Zeitschrift - 2001; 2 : 31 - 34 - publiziert wurde).

Seither ging es weiter im entsprechenden „Geist”, und auch der Wechseltausch mit den „Filialen” in Deutschland und Frankreich hat sich erhalten, was mich freilich als ehemaligen „Brückenbauer” besonders freut.

Den Vortrag von Samuel Wiener, den er zur Einführung der letzten Silserwoche (2004) gehalten hat, wie auch die Tatsache, dass er ebenfalls in dieser Zeitschrift im Druck erscheint, empfinde ich als lebendiges Zeugnis des Gesagten. Wieners Text spricht von der Sprechstunde und dem, was in ihr auch geschieht bzw. gemerkt werden kann, sowie davon, wie die Balint-Gruppe dieses Geschehen und Merken „weiter-spricht”. Dazu ein kleiner „historischer” Hinweis: In den Anfängen ging es in Sils und auch in den Gruppen Balints um „das Psychische” im Sprechzimmer des Nicht-Spezialisten, speziell des Allgemeinpraktikers. In Wieners Vortrag geht es um „Sprache” im Raum der Beziehung und … im Blick der Balint-Erfahrung.

Dr. med. Arthur Trenkel

Via Madonna della Salute 30

CH-6900 Massagno

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