Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2005; 40(6): 327-328
DOI: 10.1055/s-2005-870111
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anästhesiologisches Stand-by - anästhesiologisches Stiefkind?

Monitored Anaesthesia Care - a Cinderella of Anaesthesiology?M.  Przemeck1 , S.  Piepenbrock1
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
08 June 2005 (online)

Obwohl kürzlich eine stringente Definition des „anästhesiologischen Stand-by” vorgeschlagen wurde, nach der das Stand-by auf die Überwachung der Vitalfunktionen beschränkt und von der „anästhesiologischen Betreuung” im Fall weitergehender Interventionen abzugrenzen ist [1], hat sich im fachlichen Sprachgebrauch ein erweitertes Verständnis dieser spezifischen anästhesiologischen Aufgabe gehalten. In Anlehnung an den korrespondierenden Begriff aus dem angloamerikanischen Sprachraum „monitored anaesthesia care” verstehen viele daher unter der im Deutschen etablierten Bezeichnung „Stand-by” eine umfassende perioperative Betreuung des Patienten, die neben der Beobachtung auch ggf. die Behandlung der Vitalfunktionen und eine verbale bzw. medikamentöse Sedierung einschließt [2]. Der „Miller” umreißt das Aufgabenspektrum entsprechend mit „patient comfort, safety, and satisfaction during surgery”, „the anesthesiologist … is in control of his or her vital signs, and is available to administer anesthetics or provide other medical care as appropriate“ [3].

Von diesem erweiterten Begriff des Stand-by geht auch Heindl in seiner Untersuchung zu anästhesiologischen Interventionen in der Augenchirurgie aus, die in dieser Ausgabe von AINS erscheint [4]. Dass anästhesiologisches Stand-by keineswegs mit der gleichnamigen Funktion vieler moderner elektrischer Geräte - aktionslose Betriebsbereitschaft unter mehr oder weniger geringem Energieverbrauch - gleichzusetzen ist, belegt er dabei eindrucksvoll. In der untersuchten Patientengruppe erfolgte in mehr als 50 % der Fälle eine medikamentöse Sedierung zusätzlich zur Retrobulbäranästhesie, die von den Operateuren angelegt wurde; 50 % benötigten weitergehende Behandlung entweder im Rahmen einer Akutintervention oder als Fortsetzung einer präoperativ bestehenden medikamentösen Dauertherapie. Diese Zahlen sind mit denen aus einer Untersuchung aus dem Jahr 1991 an einem ähnlichen Patientenkollektiv vergleichbar: Dort erfolgten etwa ⅓ aller ophthalmochirurgischen Eingriffe in Stand-by, und therapeutische Interventionen durch den Anästhesisten waren ähnlich häufig wie in der Studie von Heindl [5]. In einer Re-Analyse ihrer Daten kamen die Autoren seinerzeit zu dem naheliegenden Schluss, dass das anästhesiologische Stand-by trotz des Fehlens „typischer Arbeitsvorgänge wie Intubation oder künstlicher Beatmung” eine qualifizierte und anspruchsvolle Tätigkeit ist, die volle Berücksichtigung bei der Stellenzumessung an den Arbeitsplätzen erfordert [6]. Die gemeinsam von Patient, Anästhesist und Operateur getroffene Entscheidung für Allgemeinanästhesie oder für Stand-by ist also abhängig zu machen von den individuellen medizinischen und operativen Voraussetzungen im konkreten Fall, nicht aber von der Verfügbarkeit eines geeigneten Anästhesisten - denn der wird in beiden Fällen gleichermaßen benötigt [7].

Anästhesiologisches Stand-by ist bekanntlich nicht nur in der Augenheilkunde etabliert. Es wird geschätzt, dass in den USA bis zu 60 % aller ambulanten und immerhin bis zu 12 % aller stationär durchgeführten Eingriffe in dieser Form der anästhesiologischen Betreuung durchgeführt werden [8]. Auch wenn diese Zahlen für hiesige Verhältnisse großzügig bemessen sind, besteht kein Zweifel daran, dass man auch in Deutschland gerade in den ambulanten Bereichen bestrebt ist, die Zahl an Eingriffen ohne Allgemeinanästhesie zu steigern. So lange dies unter Berücksichtigung konsentierter Qualitätsstandards und mit ausreichendem Patientenkomfort geschieht, ist hieran nichts zu kritisieren. Um so wichtiger ist es aber, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung gegen eine Vollnarkose nicht automatisch auch zum Verzicht auf qualifizierte anästhesiologische Betreuung führen darf, der Patient dann also allein durch den für die Untersuchung bzw. Operation zuständigen Arzt und sein Assistenzpersonal betreut werden muss. Vielmehr muss hier die anästhesiologische Mitbehandlung in Form des Stand-by als weitere Möglichkeit in die Planungen einbezogen werden. Besonders kritisch ist diese Entscheidung bei Patientengruppen mit hohem Alter oder hoher Komorbidität, wie sie z. B. in der Augenheilkunde typisch sind, zu treffen. Gleiches gilt etwa in der ambulanten Endoskopie, bei der zwar möglicherweise „gesündere” Patienten untersucht werden, die eingesetzten Anästhetika jedoch in Dosen verwendet werden, die sich von der angestrebten „conscious sedation” des anästhesiologischen Stand-by z. T. weit entfernt und in ihrer Kombination die Grenze zur intravenösen Anästhesie bereits überschritten haben [9]. Wer in solchen Konstellationen auf fachlichen Beistand (und nichts anderes bedeutet „Stand-by”) verzichtet, ist bereit, Abstriche in der Sicherheit seiner Patienten hinzunehmen. Es ist Herrn Heindl zu danken, dass er die besonderen Aufgaben des Anästhesisten beim Stand-by wieder einmal in Erinnerung ruft.

Literatur

  • 1 Adams H A, Kochs E, Krier C. Heutige Anästhesieverfahren - Versuch einer Systematik.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2001;  36 262-267
  • 2 Geil W. Allgemeinanästhesie-Verfahren. In: Reinhard M, Schäfer R (Hrsg) Klinikleitfaden Anästhesie. Neckarsulm; Jungjohann 1993: 250-290
  • 3 Sá Rêgo M M, White P F. Monitored anesthesia care. In: Miller RD (Hrsg) Anesthesia. New York; Churchill Livingstone 2000: 1452-1467
  • 4 Heindl B. Interventionshäufigkeit und Risikofaktoren bei anästhesiologischen Stand-by in der Opthalmochirurgie - eine retrospektive Analyse.  Anästh Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2005;  40 340-344
  • 5 Heinze J, Menzel D, Birkle M, Banzhaf H. Augenchirurgie: Stand by-Anästhesie bei 925 Patienten.  Anästh Intensivmed. 1992;  33 328-331
  • 6 Heinze J, Banzhaf H, Birkle M, Menzel D. Stand by-Anästhesie - nur „dabei sein”?.  Anästh Intensivmed. 1993;  34 89-92
  • 7 Piepenbrock S, Schäffer J. (Hrsg) .Anästhesie in der Augenklinik. New York; Thieme 1989
  • 8 Sá Rêgo M M, Watcha M F, White P F. The changing role of monitored anesthesia care in the ambulatory setting.  Anesth Analg. 1997;  85 1020-1036
  • 9 Külling D, Rothenbühler R, Inauen W. Safety of nonanesthetist sedation with propofol for outpatient colonoscopy and esophagogastroduodenoscopy.  Endoscopy. 2003;  35 679-682

Priv.-Doz. Dr. Michael Przemeck

Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover ·

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Email: przemeck.michael@mh-hannover.de

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