PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(1): 108-110
DOI: 10.1055/s-2005-915417
Im Dialog
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Anmerkungen zum Schwerpunktheft „Psychotherapie und Psychiatrie”

PiD Heft 3, September 2005
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Publication Date:
23 February 2006 (online)

„Ach diese Psychiater …”

Nicht erst seit der neuen Weiterbildungsordnung für Ärzte 1992 ist die Psychotherapie „verbindlich” mit der Psychiatrie verknüpft, wie Wolfgang Senf und Ulrich Streeck in ihrem Editorial vermuten. Es soll schon vorher vereinzelt Psychiater und psychiatrische Kliniken gegeben haben, die einen gewissen Professionalisierungsgrad zu erreichen versuchten. Die neue Weiterbildungsordnung 1992 stellt das Ergebnis eines langen Prozesses mit sehr wechselvoller Geschichte dar.

In diesem Sinne transportiert das Schwerpunktheft in seinem Titel einen Doppelcharakter: Es beschäftigt sich einerseits mit psychotherapeutischen Interventionen bei offensichtlich als originär psychiatrisch aufgefassten Gruppen wie etwa Patienten mit schizophrenen, bipolaren und demenziellen Störungen. Andererseits betont der Titel „Psychotherapie in der Psychiatrie” leise und vorsichtig, dass es sich bei der Implementierung der Psychotherapie in der Psychiatrie noch um etwas Besonderes handelt. Ja, Wolfgang Senf und Ulrich Streeck machen sich sogar Sorgen um die Frage, ob Psychotherapie Bestandteil psychiatrischer Praxis bleiben wird. Diese Sorge, darf ich als Psychiater und Psychotherapeut versichern, ist gesundheitsökonomisch nachvollziehbar, aber ansonsten heute weitgehend unbegründet.

Erstaunlich ist, dass die Geschichte der Psychotherapie in der Psychiatrie, wie sie in dem Editorial angedeutet und im Beitrag von Ulrich Rüger dann breit dargestellt wird, erst ab 1945 beginnen soll. Tatsächlich hatte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse Einzug in viele psychiatrische (Universitäts-)Kliniken gefunden und war gerade von der mittleren Ebene der Oberärzte breit rezipiert worden. Nicht nur viele Psychoanalytiker wurden durch den Faschismus in das Exil getrieben, sondern auch viele Menschen genau dieser Nachwuchsgeneration, von denen andernorts (wie etwa in der Schweiz, in Großbritannien und den USA) eine zumindest psychodynamisch ausgerichtete Psychiatrie in den Jahren danach aufgebaut wurde, nur eben nicht in Deutschland. Medizinhistorische Studien zeigen, dass nahezu die Hälfte der damaligen universitären Oberärzte das Land verlassen hat, in dem sich dann in den Jahren 1939 - 1945 viele auch führende Psychiater durch ihre aktive oder duldende Teilnahme an der offenen oder heimlichen Euthanasie schuldig gemacht haben. Die an vielen Orten realisierte personelle Kontinuität psychiatrischer Klinikmitarbeiter in das Nachkriegsdeutschland hat die antipsychoanalytischen Affekte dieser Generation perpetuiert, das Grauen der Euthanasie zunächst mit einer Mauer des Schweigens umgeben und zweifelsohne auch zu der für viele einseitigen biologischen Ausrichtung der Psychiatrie beigetragen. Insofern konnte sich zumindest die (psychoanalytisch ausgerichtete) universitäre Psychosomatik und Psychotherapie deshalb in Deutschland über zwei Generationen in Deutschland so erfolgreich entwickeln, weil an vielen Orten eine auch historisch determinierte Psychotherapieaversion verblieb und die vor dem Faschismus geflüchteten Psychiater zum größten Teil nicht zurückkehrten. Es wäre interessant zu klären, in welcher Weise diese Prozesse durch die Kollaboration einiger in Deutschland verbliebener Psychoanalytiker mit dem Faschismus beeinflusst wurden, diesbezügliche Untersuchungen kenne ich aber leider nicht.

Unter dieser historischen Perspektive ist es nicht erstaunlich, dass die späteren Generationen in der Psychiatrie die Psychotherapie stärker als in den Nachkriegsjahren zu integrieren begannen, wobei sich die Psychiatrie insgesamt als erheblich diversifizierter darstellt als es das Schlagwort „Mainstream-Psychiatrie” in dem Beitrag von Ulrich Rüger vermittelt. Unberücksichtigt bleibt dabei vor allem die sozialpsychiatrische Bewegung der 60er- und 70er-Jahre, die die klassischen Anstalten geöffnet und damit in einer gewissen Hinsicht erst die strukturellen Voraussetzungen für eine stärkere Integration der Psychotherapie geschaffen hat.

Geschätzt zumindest 60 % der ärztlichen Weiterbildungsteilnehmer entscheiden sich seit Jahrzehnten konstant für eine psychodynamische Psychotherapieausbildung, wobei sich viele von klinischen Psychologen getragenen Verhaltenstherapieinstitute lange Zeit mit der Integration von Medizinern schwer getan haben, was zu dem Effekt führte, dass zahlreiche verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme in psychiatrischen Kliniken noch heute im Wesentlichen von Psychologen getragen werden. Zumindest an den relativen Ausbildungszahlen der Mediziner lässt sich der Verhaltenstherapieshift „der Psychiater” kaum belegen.

Bei genauerem Hinsehen wird sichtbar, dass viele universitäre Vertreter des Faches Psychiatrie und Psychotherapie auch psychoanalytisch ausgebildet wurden und viele Vertreter des Faches Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin psychiatrisch. Wirft der kundige Betrachter einen Blick in englischsprachige Psychotherapiejournals der letzten Jahrgänge, so kann er, je nach Fachzugehörigkeit, erfreut oder erschüttert darüber sein, wie sehr „die Psychiater” aufgeholt haben. All das reflektiert eine Entwicklung der letzten 20 - 30 Jahre.

Ach „diese Psychiater”. Wie schön wäre es doch, wenn sie bei ihren Nachkriegspositionen geblieben wären, sich auf demente, schizophrene und bipolare Patienten mit ihren rein bildgebenden, molekulargenetischen und anderen biologischen Forschungsstrategien beschränken würden, eben auf das, was „Mainstream-Psychiatrie” bedeuten kann.

Ich bin ausgesprochen neugierig auf das sicher längst projektierte Heft „Psychotherapie in der Psychosomatischen Medizin”. Das könnte jenseits der manchmal nicht sehr gehaltvollen berufspolitischen Auseinandersetzungen um die „Zugehörigkeit” diagnostischer Gruppen zu den Fächern über die Neuausrichtung der Psychosomatik Auskunft geben. Diese ist notwendig, denn die Psychiatrie geht den Weg der Integration psychotherapeutischer Verfahren konsequent weiter, und das wird die Konkurrenzsituation zwischen den Fächern nicht vereinfachen. Eine besondere Frage stellt dabei zweifelsohne die Integration der beiden Finanzierungssysteme (Krankenkassen und Rentenversicherungsträger) dar, deren Trennung wir uns langfristig gesundheitspolitisch werden kaum leisten können und die sowohl die Psychosomatische Medizin als auch die Psychiatrie (und hier insbesondere die Suchtmedizin) beschäftigt.

Prof. Dr. Harald J. Freyberger, Greifswald (Beirat)

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