Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73: 1-2
DOI: 10.1055/s-2005-915565
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Grazer Psychosentage - Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis

Beiträge zur ÄtiologieGraz Meeting on Psychoses - Approaches to the Etiology of Schizophrenic DisordersH.  P.  Kapfhammer
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Publication Date:
04 November 2005 (online)

Die Beschäftigung mit schizophrenen Erkrankungen zählt seit Bestehen der modernen Psychiatrie zu den zentralen Herausforderungen ihres Selbstverständnisses als eigenständiges Fach innerhalb der medizinischen Disziplinen. Die Beschäftigung mit schizophrenen Erkrankungen charakterisiert paradigmatisch ihr konzeptuelles Denken, ihr diagnostisches Vorgehen und therapeutisches Handeln. Die Beschäftigung mit schizophrenen Erkrankungen verweist stets auf sehr unterschiedliche theoretische Ebenen, die in der historischen Entwicklung der Psychiatrie abwechselnd in den Mittelpunkt des Interesses gerade an ätiologischen Fragestellungen gerückt worden sind. Die heutige Konzeptualisierung psychischer Störungen, also auch der von schizophrenen Psychosen, beruht auf einem multifaktoriellen Krankheitsverständnis, das neurobiologischen, psychologischen wie auch psychosozialen Einflüssen in je unterschiedlich gewichteten, integrativen Bedingungsmodellen Rechnung zu tragen versucht. Ein solches integratives Verständnis lag auch der Planung und Organisation der Grazer Psychosentage zugrunde, die am 19. und 20. März 2004 stattfand. Primäres Ziel dieser Tagung war es, am Beispiel der Ätiologiediskussion schizophrener Erkrankungen einen angeregten Meinungsaustausch auf unterschiedlichen Ebenen zu ermöglichen.

H. Hinterhuber wies in seinem Einführungsreferat auf, wie sich die ätiologischen Beiträge des 18. und des 19. Jahrhunderts zum Verständnis der Geisteskrankheiten zunächst auf frühe psychodynamische Überlegungen stützen und sich allmählich auf biologische Konzeptualisierungen als Erkrankungen des Gehirns hinbewegen. Diese erfahren in Kraepelin erstmals eine grundlegende nosologische Konstituierung, die auch für die Folgejahrzehnte bis in die unmittelbare Gegenwart prägenden Einfluss zeigt. C. Mundt beschrieb in seiner Übersicht über die Auswirkungen nosographischer und denosologisierender Ansätze bei schizophrenen Erkrankungen nicht nur Stärke und Dilemma der klassischen psychopathologischen Diagnostik, sondern eröffnete auch Wege zur Überwindung der „Krise der Psychopathologie”. In seinem wissenschaftstheoretischen Exkurs zeichnete M. Musalek unterschiedliche philosophische Positionen, die einem sehr heterogenen Schizophrenieverständnis zugrunde liegen, nach. Er betonte die Chancen einer postmodernen Relativierung: „Die Konstituierung des psychischen Krankseins in einer postmodernen Geisteswelt ermöglicht uns die Wiederaufnahme dieses abgebrochenen Dialoges mit dem Anderen und seinen Leiden”. W. Pieringer unterstrich in seinem Beitrag wiederum gerade diese Dimension der schizophrenen Psychose als einer existentiellen Erkrankung.

Die gegenwärtige Ätiologiediskussion lässt wenig Zweifel, dass die neurobiologische Forschung in den zurückliegenden Jahren unser Verständnis schizophrener Psychosen grundlegend beeinflusst und gewandelt hat. Diese Erkenntnisse stützen sich auf die Entwicklung je neuartiger Forschungsmethodologien. W. Fleischhacker demonstrierte vor allem den neurochemischen Zugangsweg in seiner Relevanz für die Ätiologie schizophrener Psychosen und unterstrich die nach wie vor zentrale Rolle von Dysfunktionen in Neurotransmitter- und Rezeptorsystemen für wirksame psychopharmakologische Behandlungsansätze. B. Sperner-Unterweger formulierte hierzu ergänzende biologische Hypothesen der Psychoendokrinologie und Psychoimmunologie, während sich H. Fabisch mit basalen und komplexen Fragestellungen genetischer Risikofaktoren für eine schizophrene Vulnerabilität auseinander setzte. S. Kasper belegte, wie gewinnbringend die Möglichkeiten eines strukturellen und funktionellen Neuroimaging den Blick auf die biologische Struktur schizophrener Erkrankungen richten können.

Das Bekenntnis zu einem multifaktoriellen Bedingungsmodell in der Ätiologiediskussion der Schizophrenien fordert einen Abschied von einer einseitigen Konzentration auf nur biologische Einflüsse, selbst wenn diesen nach gegenwärtigem Erkenntnisstand eine klare Priorität eingeräumt werden muss. Es ist gerade das komplexe Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und psychosozialen Faktoren, das ins Zentrum weiterführender wissenschaftlicher Ansätze zu stellen ist. In diesem Kontext besitzt das etablierte Vulnerabilitäts-Stress-Modell seine Gültigkeit. In einer Erweiterung um die Coping-Dimension trägt es zu einem handlungsorientierten und auch therapierelevanten Ätiologiemodell bei, worauf H. Katschnig nachdrücklich hinwies. Verhaltenstheoretische Konzepte zur Ätiologie schizophrener Psychosen sind mit diesem mehrdimensionalen Modell voll kompatibel. Nach R. D. Stieglitz ermöglichen sie auf ganz unterschiedlichen Ebenen einen wertvollen Verständniszugang zur prämorbiden Entwicklung von Defiziten und auch Ressourcen schizophren erkrankter Patienten, eine experimentalpsychologische Vertiefung grundlegender psychopathologischer Phänomene wie Wahn oder Halluzination sowie lerntheoretisch abgeleitete Interventionen zu einer gezielten Modifikation. Die Veränderung sozialer Netzwerke am Beginn einer schizophrenen Psychose untersuchte G. Klug, während W. Böker entscheidende psychopathologische und psychosoziale Einflüsse auf eine Chronifizierung im schizophrenen Krankheitsprozess herausarbeitete.

M. Minauf sah eine Stärke von psychodynamischen Ansätzen weniger in monokausal angelegten entwicklungspsychologischen Modellen, wie sie diverse psychoanalytische Schulen in einem zurückliegenden historischen Abschnitt der Schizophreniediskussion als ätiopathogenetisch entscheidend favorisierten. Sie hob vielmehr den Wert psychodynamischer Prinzipien für ein tieferes Verständnis des individuellen Krankheitserlebens schizophrener Patienten und für die Gestaltung der therapeutischen Beziehung mit ihnen hervor. R. Danzinger exemplifizierte psychodynamische Aspekte anhand der faszinierenden Krankheits- und Werkgeschichte des österreichischen Klassikers Ferdinand Jakob Raimund. H. G. Zapotoczky setzte sich grundlegend mit dem Verhältnis von psychotischer Erkrankungsdisposition und schöpferischer Kreativität im Schaffen schizophrener Künstler auseinander. In einer systemischen Sicht befasste sich M. Lehofer mit Psychose als einer Zeitkrankheit und arbeitete für die Schizophrenie als wesentliche Charakteristika den Zerfall des gelebten Synchronismus, die Auflösung der zeitlichen Identität und Kontinuität wie auch die Zeitkompression heraus.

Der gerade für das typische Erstmanifestationsalter relevante Zusammenhang von Entwicklungsabschnitt und schizophrener Erkrankung wurde von D. Hönigl aufgenommen, indem sie auf einer klinischen und entwicklungspsychologischen Ebene die unterschiedlichen Manifestationen von Psychosen des Kindes- und Jugendalters differenzierte. H. P. Kapfhammer thematisierte neurobiologisches Reifungsgeschehen und psychosoziale Entwicklungsdynamik im Hinblick auf den epidemiologischen Häufigkeitsanstieg schizophrener Psychosen in Spätadoleszenz und jungem Erwachsenenalter. F. Müller-Spahn widmete sich in seinem Beitrag den paranoiden Syndromen im Alter. Er hob deren nosologische Unspezifität hervor. Er betonte einerseits die psychosozialen Rahmenbedingungen dieses Lebensabschnitts und andererseits die allgemeinen und speziellen Veränderungen des biologischen Alterungsprozesses als grundlegend für ein differenziertes diagnostisches Verstehen und therapeutisches Vorgehen.

In einer Referenz an den Genius loci bot F. Rous abschließend eine Übersicht über die Risikofaktoren für delinquentes Verhalten schizophren Erkrankter von Krafft-Ebing bis heute.

Die Grazer Psychosentage gaben mir seit meinem Dienstantritt in Graz erstmals die willkommene Gelegenheit zwei Anliegen zu verwirklichen, einerseits die Kontinuität der Grazer Universitätsklinik für Psychiatrie nach außen hin zu zeigen und vor allem meinem Vorgänger, Herrn Prof. Zapotoczky für seine kollegiale Übergabe und die Unterstützung, die er der Klinik und auch mir weiterhin zukommen lässt, mit diesem gemeinsamen Unternehmen einer wissenschaftlichen Tagung herzlich zu danken, und andererseits die Vertreter aller österreichischen Universitätspsychiatrien zu einem anregenden Meinungsaustausch untereinander und mit Kollegen aus Deutschland und der Schweiz an einem Tisch zu versammeln. Der Tagungsband, der leider nicht alle Referate auch in schriftlicher Form vorlegen kann, mag diesen kollegialen Meinungsaustausch abbilden. Er enthält nicht die zahlreichen anregenden Diskussionsbeiträge und er verrät nur wenig von den kulturellen und kulinarischen Rahmenbedingungen, unter denen die Grazer Psychosentage stattfinden konnten. Schon allein sie sollten die/den einen oder die/anderen LeserIn motivieren, zu den nächsten Grazer Psychosentagen zu kommen, die für den Herbst 2006 geplant sind, um sich persönlich davon zu überzeugen.

Ich möchte meinen ganz besonderen Dank dem Ehepaar Frau Prof. K. Fabisch und Herrn Prof. H. Fabisch aussprechen, die mit ihrem großen Engagement sowohl die Planung und Organisation der Tagung als auch das Zustandekommen dieses Sonderheftes der Fortschritte Neurologie Psychiatrie überhaupt erst ermöglicht haben.

Prof. Dr. Dr. H. P. Kapfhammer

Universitätsklinik für Psychiatrie

Auenbruggerplatz 31

8036 Graz

Österreich

Email: Hans-Peter.Kapfhammer@klinikum-graz.at

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