PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(4): 423-428
DOI: 10.1055/s-2006-951821
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Improvisationstheater als Gruppentherapie für sexuell traumatisierte Frauen

Claudia  Weinspach im Gespräch mit Steffen  Fliegel
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Publication Date:
29 November 2006 (online)

PiD: Frau Weinspach, Sie arbeiten mit einem speziellen Gruppentherapiekonzept mit sexuell traumatisierten Frauen. Können Sie dieses Konzept unseren Leserinnen und Lesern beschreiben?

Claudia Weinspach: Ich nenne diese Gruppenarbeit „Trauma-Arbeit für die Sinne”. Die Trauma-Arbeit für die Sinne hat zur Grundlage, dass wir tatsächlich mit den Sinnen, die als Körperwahrnehmungen vorhanden sind, arbeiten, d. h. mit den Augen, mit den Ohren, dem Tastsinn und auch mit den Wahrnehmungen nach innen, also in den Körper hinein.

Worunter leiden diese Frauen, die sexuelle Gewalterfahrungen hinter sich haben und Sie aufsuchen?

Die meisten Frauen kommen erst später in ihrem Leben zu uns, nachdem sie schon ihr Leben aufgebaut haben und im Alltag gut funktionieren. Aber sie haben Probleme, vor allem in ihren nahen Beziehungen, leiden nicht selten an körperlichen Krankheiten und an Störungen in der eigenen Beziehung zum Körper. Oft ist von außen eigentlich gar nichts Schwieriges wahrnehmbar. Es sind ganz häufig angepasste Frauen, die beruflich erfolgreich sind, vielleicht verheiratet, die Kinder haben. Sie sagen von sich selber, dass sie sich nicht mögen, dass sie selbstverletzende Verhaltensweisen haben, sich kratzen, schneiden oder unter massiven Essstörungen leiden, und dass Intimität, sei es mit den Kindern oder auch mit dem Partner, sehr schwierig bis unmöglich ist. Was auch auftreten kann, ist, dass es keine innere Zuversicht mehr gibt und dass sie aus ihrem Grundmisstrauen heraus ihren Partner nicht mit den Kindern allein lassen. Eine Frau hat es einmal für sich so formuliert, dass sie an keinem Ort dieser Welt sicher sei. Sie sei nicht in sich selbst, nicht in ihrem Körper und auch nicht in ihren Beziehungen zu Hause, sie fühle sich einfach wurzellos.

An welchen Aspekten des Leidens dieser Frauen setzt Ihre Gruppenarbeit an?

Der Kernpunkt dieser Gruppenarbeit - übrigens auch der Einzelarbeit - ist die Beziehung zu sich selbst, zum eigenen Körper, den eigenen Empfindungen, den eigenen Vorstellungen über die Welt, all das, was zur Selbstwahrnehmung und zur Identität dazu gehört, das überhaupt in der jetzigen Gegenwart bewusst zu machen, das ist der Ausgangspunkt für die Arbeit.

Heißt das, dass die therapeutische Arbeit auch sehr auf die Gegenwart bezogen verläuft? Und auf der Grundlage welcher therapeutischen Verfahren basiert Ihre Arbeit?

Ja, das Ansetzen an der Gegenwart ist ein grundsätzliches Prinzip. Meine Methoden habe ich aus meinen unterschiedlichen Ausbildungen entwickelt. Dazu gehören vor allem humanistische Therapiemethoden, Körpertherapie und einige hypnotische Verfahren. Für die Heilungsarbeit sind Ausgangspunkte die Präsenz und die eigene Kohärenz als Mensch in der Gegenwart. Ich kann immer nur konkret im Hier und Jetzt, in den Erfahrungen, die ich jetzt mache, etwas verändern: sowohl hinsichtlich dessen, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, sich dann aber wieder im Hier und Jetzt aktualisiert, aber auch in den Zukunftsvorstellungen, die als Ideen oder Erwartungen im eigenen Leben auftreten. Es geht um den Moment. Die Symptome dieser Patientinnen bestehen ja vor allen Dingen in ihren dissoziativen Lebensstrukturen. Das Erleben von Flashbacks, das mit dem sich anschließenden Vermeiden der Situation gekoppelt ist, führt immer mehr dazu, dass selektiv einige Lebens-, Ereignis- und Erfahrungsbereiche komplett ausgeblendet werden, sodass in der Gegenwart nur bestimmte Bereiche bewusst wahrgenommen werden.

Arbeiten Sie dabei mit dem erfahrenen Trauma selbst oder schaffen Sie für die betroffenen Frauen so etwas wie eine Gegenkraft zu dieser traumatischen Erfahrung?

Ich setze immer an dieser - wie Sie das gerade so schön genannt haben - Gegenkraft zur erfahrenen Grenzüberschreitung an. Das heißt, es geht darum, einen Raum herzustellen, der dann zum Ziel hat, ein inneres Gleichgewicht zu diesen Traumatisierungen zu finden und das zu erleben, was jetzt in der Gegenwart möglich ist. Dabei wird das Trauma keinesfalls ausgespart, aber es wird nicht in den Fokus des Erlebens genommen. Es geht darum, die kognitiven, emotionalen und auch die Energieblockaden aufzulösen. Und das Ganze findet statt durch, wie ich das nenne, strukturierte Kreativität.

Und dabei arbeiten Sie eben nicht nur sprachlich, sondern auch nonverbal mit dem Körper und mit den Körperwahrnehmungen. Sie nennen das „Improvisationstheater”. Dazu gleich. Wie ist der formale Ablauf der Gruppentherapie?

Wir haben eine Mindestteilnehmerinnenzahl von vier Frauen und als Maximum nicht mehr als acht. Es gibt insgesamt 15 Sitzungen mit je zwei Stunden, wobei ein Vorgespräch stattfindet, um herauszufinden, für wen die Gruppenarbeit sinnvoll ist.

Welche Voraussetzungen muss eine Patientin erfüllen, um an der Gruppe teilnehmen zu können?

Eine wichtige Grundvoraussetzung ist bereits vorhandene Erfahrung mit Therapie. Die Körperarbeit kann tiefe Gefühle auslösen und überfordernd sein. Begleitende Einzeltherapie ist erwünscht, aber keine weitere Voraussetzung.

Haben Sie noch weitere formale Informationen?

Nach der 7. oder 8. Sitzung findet ein Einzelgespräch statt, am Ende ein Abschlussgespräch. Am Anfang der Gruppenarbeit werden individuelle Ziele herausgearbeitet. Hier äußern Teilnehmerinnen z. B. dass sie lernen möchten, wenigstens ein bisschen zu entspannen oder irgendwie am eigenen Leben auch innerlich teilzunehmen, nicht permanent an früher denken zu müssen, ihre Kinder in den Arm zu nehmen oder die Tochter auch mal baden zu können. Im Zwischengespräch wird noch einmal überprüft, ob sich Ziele verändert haben und welche Fortschritte es bereits in Richtung der Ziele gegeben hat. Am Ende der Gruppe erfolgt dann eine Auswertung.

Wir sitzen hier im Gruppenraum: ein Raum mit einer sehr warmen Atmosphäre, einem großen Teppich in der Mitte, in der Mitte des Teppichs fünf Sitzkissen, ganz in der Mitte eine Schale mit Muscheln und kleine Handpuppen um diese Schale herum. Wozu dient dieses Ambiente?

Das Ambiente ist so gewählt mit der Idee, dass dies eine Oase sein kann, ein Raum, der Sicherheit bietet, an dem es möglich ist, Erfahrungen zu machen, die geschützt sind.

In Ihrer Gruppentherapie fällt häufig das Wort „Wohlfühlraum”. Ist dieser Raum aus Ihrer Sicht dann auch als Wohlfühlraum für die Patientinnen gestaltet?

Auf jeden Fall. Es ist sehr wichtig, diese Wohlfühlräume zu finden - in den eigenen Gedanken, Gefühlen und auch Körperempfindungen, und in Beziehungen mit den anderen Menschen. Und diese Sitzungen sind explizit dafür da zu suchen, wie kann ich mich wohler fühlen, wie kann es mir besser gehen.

Was passiert inhaltlich in der Gruppenarbeit in diesem Wohlfühlraum hier?

Wir beginnen immer mit einem gemeinsamen Eingangsritual, einer Eingangsmeditation. Konkret sieht das so aus, dass jede Teilnehmerin sich ihren Platz sucht in unserem Kreis, wobei der Kreis manchmal ausgedehnt wird. Manche Frauen setzen sich etwas mehr für sich an die Wand, andere bleiben in dem Kreis auf dem Sitzkissen. Und dann wird ein keltisches Musikstück gespielt, das in jeder Sitzung identisch ist. Das hilft den Frauen, in dieser Stunde anzukommen. Während diese Musik läuft, gebe ich eine Induktion, die dabei unterstützt, die Wahrnehmung nach innen und für die Präsenz in diesem Raum zu erleichtern, z. B. mit einer kleinen Körperreise. Es muss nichts verändert werden, es besteht keine Notwendigkeit, sich irgendwelchem Druck zu unterwerfen, sondern einfach nur da zu sein, was ja für die meisten Frauen schwierig ist.

Welches ist die nächste Stufe nach der Körperreise, nach dieser Eingangsmeditation?

Im zweiten Abschnitt der Gruppensitzung gibt es dann das so genannte „Blitzlicht” oder auch die Eingangsrunde. Und in dieser Eingangsrunde hat jede Frau die Möglichkeit, unkommentiert, unzensiert das zu sagen, was sie in diesem Moment bewegt. Das kann etwas sein, was sie in der letzten Woche erlebt hat, das kann ein Thema sein, mit dem sie gerade beschäftigt ist oder auch etwas, was gerade körperlich los ist z. B. Schmerzen, Erkrankungen, Flashbacks. Manchmal wird dieser sprachliche Teil ergänzt durch eine Geste. Diese bewusste Kombination von Sprache und Geste gehört bereits zu den strukturierten kreativen Methoden.

Wie könnte so eine Geste aussehen?

Eine Geste könnte z. B. sein, die Arme auszubreiten und die Handflächen nach oben zu halten - wie so ein Ausdruck von Hilflosigkeit oder „Ich bin hier gerade überflutet”.

Die Eingangsmeditation, dann das Blitzlicht, welches wäre der dritte Teil?

Im dritten Teil gehen wir über zur stärkenden Körperarbeit. Es gibt hier unterschiedliche Möglichkeiten, zum Beispiel Übungen aus dem Yoga; wir arbeiten auch mit Übungen aus dem Tai-Chi und Chi-Gong. Wichtig bei der stärkenden Körperarbeit ist es, dass immer Übungen eingesetzt werden, die keine Trigger auslösen. Zentrieren und Aktivieren stehen im Vordergrund. Beispielsweise ist der „Baum” eine Yoga-Übung, die sich gut eignet oder auch der „Sonnengruß”.

Das heißt, Ressourcenaktivierung ist bereits frühzeitig ein wichtiger Bestandteil in der Gruppenarbeit?

Ja, und das ist für die Frauen in der Regel sehr schwierig aufzubauen. Dann folgt als Hauptthema „Meine Wohlfühlräume”, das ist ein thematischer Schwerpunkt. Im Moment arbeiten wir sehr viel an Heilungsräumen oder auch Heilungslandkarten, ein weiterer Schwerpunkt, der in eine ähnliche Richtung geht. Es geht immer darum, etwas Neues neben dem aufzubauen, was zerstört oder beeinträchtigt ist. Da gibt es verschiedene Bestandteile und Abfolgen. Es gibt immer einen kognitiven Teil, wo wir schauen, was die betroffene Frau selber für Konzepte und Schemata hat. Dieser Part soll aber verbunden werden mit dem unmittelbaren Erleben. Das unmittelbare Erleben kann unterschiedlich stattfinden, zum Beispiel in der Arbeit mit Hypnose oder inneren Bildern; beispielsweise werden die inneren Räume erst einmal exploriert. Manchmal machen wir es mit kreativen Methoden wie dem Ausdrucksmalen und eben auch mit Methoden wie den Warm-ups aus dem Improvisationstheater.

Können Sie das Improvisationstheater näher beschreiben?

Das Improvisationstheater eignet sich in besonderer Weise für den spielerischen Ausdruck, weil es kreativ ist, das heißt Freiräume lässt, etwas Neues zu tun, aber gleichzeitig sehr viel Struktur hat. Es besteht dann nicht die Gefahr, in irgendwelche Situationen reinzukommen, die sehr gefährlich werden können. Es gibt immer Vorgaben, Regeln dabei.

Dieses Improvisationstheater scheint mir ein sehr wichtiger Bestandteil der Gruppenarbeit zu sein. Wird der Improvisation freier Raum gegeben oder gibt es spezielle Methoden, mit denen die Patientinnen improvisatorisch arbeiten können?

Beides. Zum einen ist es so, dass diese Struktur ein sehr wichtiger Bestandteil ist, weil die Frauen in der Regel große Angst vor Spontaneität haben. Sie würden sich sonst immer genau überlegen, wie sie sich bewegen, was sie sagen, wie sie es sagen, was sie tun. Und das Improvisationstheater führt natürlich dazu, dass trotz des hohen Kontrollbedürfnisses auch spielerische Leichtigkeit entsteht. Aber eben über bestimmte Regeln.

Gibt es da bestimmte Übungen?

Solche Warm-ups können sein einerseits das „Hey-Wandern” oder auch das „Vokale Wandern”, „Gemeinsam Sätze bauen” oder auch das „Karreelaufen”. Und dann gilt es schließlich, Alltagsszenen nach bestimmten Regeln aufzubauen, zu spielen und wieder abzubauen. Eine etwas komplexere Art der Arbeit ist dann das Lösungsspiel, was noch ein bisschen anders funktioniert als im Improvisationstheater.

Box 1 Übungen

Gemeinsam Sätze bauen

Ziele: Die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und die Feinmotorik beschäftigen, um durch Kontrolllücken aufgrund einer Überlastung des Systems indirekt Raum für Spontaneität zu schaffen, spontan mit dem ganzen Körper in Beziehung zu den anderen Teilnehmerinnen treten und positives Gemeinschaftsgefühl herstellen.

Benötigte Materialien: pro Teilnehmerin zwei Schaumstoffsteine.

Übung: Alle stellen sich in einem Kreis auf. Jede Teilnehmerin hat zwei Schaumstoffsteine zu vergeben, z. B. bei fünf Teilnehmerinnen zehn Steine. Die erste Teilnehmerin beginnt mit dem ersten Wort und gibt ihren ersten Stein an ihre Nachbarin. Die Nachbarin nimmt den Stein, wiederholt das Wort und fügt ein sinnvolles Wort dazu. Stein und Satz wandern weiter von Teilnehmerin zu Teilnehmerin. Der Satzbau wächst und wird schwieriger zu balancieren.

Die Kunst besteht einerseits darin, den Satz nicht zu früh enden zu lassen, aber auch nicht ganz sinnlos mit Füllwörtern zu gestalten. Manchmal entstehen witzige Gebilde, manchmal nachdenkliche, immer ist es eine integrative Körpererfahrung für den sprachlichen und den Körperausdruck, für die Koordination und die Spontaneität, weil es unmöglich ist, auf alles gleichzeitig zu achten. Regelmäßig fallen die Steine herunter, Sätze werden obskur, witzig und müssen gemeinschaftlich „ertragen” werden.

Beispiel:

Ich

Ich habe

Ich habe heute

Ich habe heute schon

Ich habe heute schon wieder

Ich habe heute schon wieder nicht

Ich habe heute schon wieder nicht gegessen

Ich habe heute schon wieder nicht gegessen, weil …

Karreelaufen

Ziele: Die eigene Beobachtungsgabe und Ausdruckspräzision schulen, Erleben in einer halbstrukturierten Situation differenzieren lernen, Kontakte eingehen und beenden.

Benötigte Materialien: Ein Raum, in dem man genug Platz zum Laufen hat (ca. 24 m2).

Übung:

1. Stufe: Die Szene wird aufgebaut, indem die Teilnehmerinnen nacheinander die Bühne betreten und auf einem Schachbrett in vertikalen und horizontalen Bahnen laufen. Beim Laufen gibt es keine Kurven, keine Rundungen. Das Bild dafür ist eine hektische Großstadt, in der jede nur ihr eigenes Ziel verfolgt, ohne dass sie Kontakt mit ihrer Umgebung aufnimmt. Manchmal begegnen sich Teilnehmerinnen zufällig und ändern dann sofort die Laufrichtung, ohne sich zu grüßen. Wenn alle auf der Bühne sind, entsteht langsam eine Rückwärtsbewegung der Szene, bis die Teilnehmerinnen nacheinander die Bühne wieder verlassen haben.

2. Stufe: Jede Teilnehmerin findet einen Alltagssatz des heutigen Tages, den sie für die anderen Teilnehmerinnen benennt und zusätzlich mit einer Geste ausdrückt. Der Satz soll etwas Persönliches, aber auch Alltägliches beinhalten, z. B. ein Erlebnis, ein Kommentar des Nachbarn, der Bäckerin etc. Wenn alle ihre Sätze gefunden und ausgedrückt haben, gehen die Teilnehmerinnen wieder in ihr Karree und laufen wie in der ersten Runde anonym umher. Wenn sie sich nun treffen, entsteht eine definierte, stereotype Begegnung mit kurzem Blickkontakt, und jede sagt ihren Alltagssatz, läuft anschließend weiter. Die Begegnungen variieren, bis alle wieder von der Bühne heruntergekommen sind.

3. Stufe: Die Teilnehmerinnen tauschen ihre Alltagssätze (nur nach Wunsch) und spielen dieselbe Szene wie beim zweiten Durchlauf, diesmal mit einem anderen Erlebensinhalt. Dabei erfahren sie sich selbst in einer neuen Miniszene bewusst in Abgrenzung zu der Person, die den Satz vorher hatte.

„Hey” wandern und Vokale wandern

Ziele: Zwei im Schwierigkeitsgrad aufeinander aufbauende Übungen, die die Kontaktfähigkeit im spontanen Erleben fokussieren und dabei den Mut zum Ausdruck und die eigene Kreativität in der Ausdrucksfähigkeit fördern. (Die Übungen können auch getrennt voneinander angewandt werden und als Warm-ups für die lösungsorientierten Improvisationsszenen Einsatz finden.)

Materialien: Es werden keine Materialien außer einem Raum mit ausreichender Größe benötigt.

Übung:

Stufe 1: Hey wandern

Die Teilnehmerinnen stehen im Kreis, und die Aufgabe besteht darin, ein laut tönendes „Hey” zusammen mit einem Klatschen an die Nachbarin weiterzugeben. Die Nachbarin nimmt es und dreht sich blitzschnell zu ihrer Nachbarin, um es ihrerseits weiterzugeben. Wichtig ist dabei, dass das „Hey” nicht herunterfällt und damit abstürzt. Je schneller und präziser „Hey” und Klatschen wandern, desto besser ist die Aufgabe erfüllt. Wenn es dreimal im Affenzahn durch die Runde gewandert ist, ohne abzustürzen, kann der Schwierigkeitsgrad erhöht werden. Jetzt kann mit zweimaligem Klatschen das „Hey” an die Geberin zurückgehen. Damit ändert sich entsprechend die Wanderrichtung des „Heys” in die entgegengesetzte Richtung. Duelle entwickeln sich, wenn das „Hey” mit einem Doppelklatschen hin- und herspringt. Meist fällt es spätestens in diesem Stadium den Teilnehmerinnen zunehmend schwerer, den Ernst der Aufgabe zu erfüllen, und die Situation bricht mit Gelächter zusammen.

Stufe 2: Vokale wandern

Das Prinzip des Gebens und Nehmens respektive des Weitergebens steht auch in dieser Übung im Zentrum. In diesem Fall handelt es sich aber um einen tönenden Vokal, der zusammen mit einer Geste durch die Gruppe wandern soll. In der Regel nimmt man als neutralen Vokal als erstes ein „A”, weil es, z. B. im Gegensatz zu einem „I”, wenig negative emotionale Beitöne hat. Es ist jetzt die Aufgabe der Teilnehmerin, das „A” von der Nachbarin zu übernehmen und eine kreative Veränderung vorzunehmen, bevor es weitergegeben wird. Auch hier dürfen weder Ton noch Geste „herunterfallen”, eine Herausforderung, die die Überwindung von emotionalen Hemmschwellen fördert. Wenn das „A” erfolgreich gewandert ist und die Gruppe lebendiger wird, kann mit anderen Vokalen variiert werden. Es können Szenen entstehen, wenn z. B. zwei Sumo-Ringer sich mit „Os” gegenseitig abschätzen oder eine Krankenwagensirene im Kreis wandert. Wichtig ist es bei der Übung, darauf zu achten, dass die Aktivität der einzelnen Teilnehmerinnen authentisch bleibt und nicht in Richtung einer Übersprungshandlung kippt.

Manches von dem, was Sie beschreiben, hört sich für mich nach Psychodrama an.

Ja, das Psychodrama ist auch eine Methode, bei der die Probleme und die Situationen, die bearbeitet werden sollen, auf die Bühne gebracht werden. Ein wesentlicher Unterschied zum Psychodrama besteht darin, dass der Einsatz dieser Lösungsspiele sich eigentlich nicht sosehr an der Psychodynamik orientiert oder an der Ausgestaltung des Problems und der Untersuchung der Hintergründe, sondern dass unser Ansatz lösungsorientiert ist. Man muss sich das so vorstellen, dass eine schwierige Situation improvisationstheatermäßig von den verschiedenen Teilnehmerinnen gespielt wird, wobei es auch nicht zwingend notwendig ist, dass diejenige es selbst spielt, die das Problem hat. Es können auch andere aus der Gruppe spielen. Wenn sie es selbst spielt, also Teil dieses Spieles ist, dann nur, wenn sie selber sagt: Ja, ich habe schon eine Idee, oder es gibt da irgendwas, was ich mir vorstellen könnte und was ich ausprobieren möchte. Das ist sehr wichtig. Wenn die Szene dann gespielt wird, gibt es eine Stelle, an der sie eingefroren wird und das Publikum mit Lösungsideen in das Spiel hineinkommt.

Können Sie einmal einige Lösungen benennen, die angestrebt werden?

Beispielsweise hatte eine Patientin große Probleme damit, mit ihrem Freund auf Feste zu gehen und nachher mit ihm in einem Bett zu schlafen, weil sie immer Angst davor hatte, dass er sich erbrechen könnte. Sie hat also alles vermieden, was damit zusammenhing: erstens auf Feste zu gehen und zweitens ihn dann überhaupt noch nachts in ihre Wohnung zu lassen. Sie hat die Szene aufgebaut und gespielt. Sie hatte für sich selbst schon Ideen, hat dann gesagt, sie möchte jetzt mal Walkman hören, sie möchte gerne Tagebuch schreiben. Aber als die Angst kam, blieb sie wieder stecken. Dann haben wir die Szene eingefroren und die anderen nach Ideen gefragt. Und dann ist eine Frau reingegangen und hat ganz praktisch einen Eimer neben das Bett gestellt. So eine Lösung ist auf den ersten Blick nicht besonders psychologisch, sie hat aber etwas ganz Entkrampfendes, weil es sichtbar wird: Na ja, dann bricht er eben. Was ist daran eigentlich so schlimm? Und darüber nicht nur zu reden, sondern es zu machen, das macht wirklich einen Unterschied.

Ich kann mir vorstellen, dass es manchen Frauen auch sehr schwer fällt, in sozialen Kontakten Grenzen zu setzen. Kann bei der Suche nach Lösungsstrategien auch die Stärkung sozialer Kompetenzen wichtig sein?

Auf jeden Fall. Eine Patientin hatte z. B. große Schwierigkeiten mit einer ihrer Kolleginnen an ihrer Arbeitsstelle. Sie hat sich äußerlich immer mehr angepasst und wollte schließlich überhaupt nicht mehr arbeiten gehen. Sie litt permanent an Kopfschmerzen und vermied alle Gespräche mit dieser Frau. Hier war der Weg etwas anders. Es ging nicht primär um die Kompetenzen, was sage ich ihr, wie sage ich es und das zu üben. Der Weg geht zunächst nach innen: Was brauche ich eigentlich selbst in dieser Situation, um mich wohl zu fühlen. Das ist wieder diese Verankerung zum Wohlfühlen. Was brauche ich selber für mich, um mir gute Bedingungen für das Arbeiten zu schaffen? Das kann zunächst als Ressource aufgebaut werden. Dann ist es leichter zu überlegen, was im Kontakt mit dieser Kollegin vertreten werden soll, um den eigenen Raum, den Wohlfühlraum, schützen zu können.

Ich hatte die Gelegenheit, im Vorfeld unseres Gespräches eine DVD mit einer solchen gruppentherapeutischen Arbeit zu sehen. Was mich sehr beeindruckt hat, ist, dass die Patientinnen freiwillig entscheiden konnten, was sie mitmachen und was nicht. Ist Freiwilligkeit ein wichtiges Prinzip?

Ja, das ist einer der Grundsätze im Improvisationstheater. Die Idee, wir spielen nur wenn und wann wir wollen. Und auf keinen Fall irgendwas zu tun, was man nicht möchte. Sobald ich mich entschieden habe zu spielen, dann gelten die Regeln des Spiels. Das heißt, ich kann immer entscheiden, ob ich mitmache. Wenn ich mitmache, habe ich auch entschieden, ich bin dabei. Dieser Schritt ist sehr wichtig, weil dadurch gewährleistet ist, dass die Eigenverantwortung von den Patientinnen übernommen werden kann und sie dann aber auch bereit sind, Hemmschwellen zu überwinden und sich einzulassen. Was das Überwinden dieser Hemmschwellen angeht, gibt es noch zwei weitere Grundprinzipien im Improvisationstheater, die ebenfalls sehr dienlich sind. Zum einen spielen wir immer für die Szene, d. h. es geht nicht darum, sich selbst darzustellen. Denn dann würden ja auch viele Bewertungsängste aktiviert. Es geht immer nur um das Thema, das gerade gespielt wird, also um die Szene selbst. Und das zweite, was in der Szene eine wichtige Rolle spielt, ist: Wenn wir alle auf der Bühne sind, lassen wir einander niemals hängen. Das ist ein Teil von Vertrauensstärkung. Ich erlebe: Wenn ich spontan bin, kommt immer eine positive Resonanz zurück. Es gibt keine Absagen. Es geht immer weiter, und das kann dann auf dieser spielerischen Ebene das Vertrauen in Beziehungen stärken.

Jede Sitzung endet mit einer Auswertungsrunde und damit, das neu Erfahrene auch verankern zu helfen. Was verändert sich bei den Frauen durch diese gruppentherapeutische Arbeit?

Eine der wichtigsten Veränderungen besteht darin, dass sich Erfahrungsräume vergrößern. Die Patientinnen leben nicht mehr - nur - in ihren alten Filmen, in ihrem Schwarz-Weiß-Denken mit Fehlbewertungen und Vermeidungen, vor allem auch in Beziehungssituationen. Es gibt neue Wahrnehmungen des eigenen Körpers, es gibt Öffnungen für neue Erfahrungen. Auf dieser Sinnesebene, in dieser absoluten Freiwilligkeit und in Beziehung mit den anderen Gruppenteilnehmerinnen baut sich langsam Steinchen für Steinchen ein Fundament für einen neuen Erfahrungsraum auf, der sehr positiv sein kann. Es entsteht mehr Lebendigkeit, mehr Ausdruck. Und dabei immer dieses Wechselspiel aus Erleben und Bewusstmachen. Und das ist etwas, das permanent in der Gruppe passiert. Dieser Raum, in dem ohne Sprache etwas erfahren wird: über den Körper, über die kreativen Methoden, über das Theater, was dann immer wieder in den sprachlichen Ausdruck rückgeführt wird.

Evaluieren Sie Ihre Arbeit?

Ja, ich habe über den Zeitraum der letzten zwei Jahre ein Beobachtungssystem entwickelt und auch einen prozessorientierten Fragebogen, den ich nach jeder Sitzung den Gruppenteilnehmerinnen gebe. Und es gibt ein Beobachtungssystem, das sich mit den Eigenaussagen und mit dem nonverbalen Körperausdrucksverhalten während der Körperarbeit bzw. dem Improvisationstheater beschäftigt. Dafür brauche ich eine Kotherapeutin. Darüber hinaus sind wir bei „Zartbitter” an einer wissenschaftlichen Begleitung interessiert und offen für eine weitere Ausarbeitung dieser Konzeption.

Ist das ein Aufruf, dass sich jemand Interessiertes melden kann?

Auf jeden Fall.

Wenn sich jemand noch ausführlicher über diese gruppentherapeutische Arbeit mit sexuell traumatisierten Frauen informieren möchte - gibt es Möglichkeiten für weitere Informationen?

Ja, zum einen gibt es die Möglichkeit, bei mir auch Workshops zu machen, die ich unter dem Namen „Trauma-Arbeit für die Sinne” anbiete. Wer sich dafür interessiert, kann mich anmailen (claudiaweinspach@web.de)[1].

Herzlichen Dank, Frau Weinspach, für das interessante Gespräch.

1 Über diese E-mail-Adresse ist auch die oben genannte DVD zu beziehen.

Korrespondenzadresse:

Dipl.-Psych. Claudia Weinspach

Salzstraße 35

48155 Münster

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