Dtsch Med Wochenschr 2007; 132(51/52): 2768-2773
DOI: 10.1055/s-2007-1012767
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der „Kampf ums Eiweißminimum”

Zum Konflikt zwischen wissenschaftlicher Ernährungslehre und Ernährungsreform - in Deutschland im 19. und 20. JahrhundertThe „Fight over the Protein Minimum” About the conflict between nutrition research and food reform in 19th and 20th century GermanyU. Heyll1
  • 1Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Publication Date:
12 December 2007 (online)

Zusammenfassung

Im Jahr 1877 veröffentlichte der deutsche Physiologe und Ernährungsforscher Carl von Voit Kostmaße, die das Minimum der erforderlichen täglichen Zufuhr an Kohlenhydraten, Eiweißen und Fetten vorgaben. Als „Eiweißminimum” errechnete Voit eine Untergrenze von 118 g pro Tag. Diese Zahl wurde vor allem von Vertretern der Ernährungsreform angegriffen, da die geforderte tägliche Eiweißaufnahme ohne reichlichen Fleischkonsum kaum realisierbar erschien. Um diesem Eindruck entgegenzutreten und die Berechtigung einer vegetarischen Lebensweise nachzuweisen, führten Reformer wie Mikkel Hindhede und Carl Röse Ernährungsexperimente durch. Dadurch konnte gezeigt werden, dass die langfristige Einhaltung von Diäten mit weniger als 30 g täglicher Eiweißaufnahme möglich ist, ohne dass eine negative Eiweißbilanz auftritt. Größere Beachtung fanden die Ideen der Ernährungsreformer jedoch erst nach den Hungersnöten des Ersten Weltkriegs. Weil die Konzepte der Ernährungsreform eine bessere und importunabhängige Nahrungsversorgung der Bevölkerung versprachen, wurden sie nach 1933 von der nationalsozialistischen Staatsführung in den Mittelpunkt einer neuen, auf Autarkie bedachten Ernährungspolitik gestellt. Die Geschichte des Eiweißminimums erlaubt Einblicke in Wirkungen und Grenzen der wissenschaftlichen Ernährungsforschung im Spannungsfeld von ökonomischen Erfordernissen, moralischen Erwägungen und tradierten Gewohnheiten.

Abstract

In 1877 the German physiologist and nutritionist Carl von Voit published diet parameters which included minimum intakes of carbohydrates, proteins and fats. As a minimum daily intake of protein Voit arrived at a figure of 118 g. This figure was questioned mainly by supporters of the so-called food reform, because the required protein intake would hardly be feasable without substantial meat consumption. To disprove this claim and to show that the vegetarian way of life was justified, reformers such as Mikkel Hindhede and Carl Röse conducted experiments demonstrating that the long-term adherence to diets with a daily protein intake of less than 30 g was possible without causing a negative protein balance. It was, however, only after the famines of the First World War that the concepts of the diet reformers met with greater interest. As they promised a better, from imports independent supply of food, the national socialist regime after 1933 made it the centre of a new food policy that aimed at autarky. Thus, the history of the „protein minimum” provides insights into effects and limits of nutrition research under the restrictions of economic requirements, moral considerations and prevailing traditions.

Literatur

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Dr. med. Uwe Heyll, M. A. 

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