Pneumologie 2007; 61(10): 655-658
DOI: 10.1055/s-2007-959206
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Die stumme Schwester”

Ein Fieberthermometer in der Weltliteratur[1] „The Silent Sister”. A Clinical Thermometer in World LiteratureC.  Mörgeli1
  • 1Medizinhistorisches Institut und Museum der Universität Zürich, Zürich
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Publication Date:
31 May 2007 (online)

Das 1924 veröffentlichte Werk „Der Zauberberg” des deutschen Schriftstellers Thomas Mann gehört zu den inhaltreichsten und am besten durchkomponierten Romanen, die je geschrieben wurden. Die Atmosphäre eines Lungensanatoriums ([Abb. 1]) im Schweizer Hochgebirge spiegelt in beklemmender Weise die desolate Seelenverfassung der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg; der Roman bietet eine scharfsinnige, pessimistische Diagnose der damaligen geistigen, politischen und ökonomischen Zustände. Auffallend groß ist aber auch des Autors Interesse an medizinischen Fragen, insbesondere an den Verfahren der Diagnostik wie Auskultation, Perkussion, Röntgen oder Thermometrie. Unter anderem beschreibt Thomas Mann ein „stummes” Fieberthermometer, welches verängstigte oder simulierende Patienten im Unklaren über die Höhe ihrer Temperatur lassen sollte. Handelte es sich bei der „stummen Schwester” („silent sister”, „la soeur muette”) um eine rein dichterische Fiktion oder um ein tatsächlich verwendetes Fieberthermometer?

Abb. 1 Schauplatz der Weltliteratur: Das „Waldsanatorium Dr. Jessen” in Davos, heute „Waldhotel Bellevue” (Thomas-Mann-Archiv, Zürich).

„Da war im vorigen Jahre Fräulein Kneifer, Ottilie Kneifer, durchaus von Familie, die Tochter eines höheren Staatsfunktionärs. Sie war wohl anderthalb Jahre hier und hatte sich so vortrefflich eingelebt, dass sie, als ihre Gesundheit vollkommen hergestellt war - denn das kommt vor, man wird zuweilen gesund hier oben -, dass sie auch dann noch um keinen Preis fort wollte. Sie bat den Hofrat von ganzer Seele, noch bleiben zu dürfen, sie könne und möge nicht heim, hier sei sie zu Hause, hier sei sie glücklich; da aber lebhafter Zudrang herrschte und man ihr Zimmer benötigte, so war ihr Flehen umsonst, und man beharrte darauf, sie als gesund zu entlassen. Ottilie bekam hohes Fieber, sie ließ ihre Kurve tüchtig ansteigen. Allein man entlarvte sie, indem man ihr das gebräuchliche Thermometer mit einer „Stummen Schwester” vertauschte. - Sie wissen noch nicht, was das ist, es ist ein Thermometer ohne Bezifferung, der Arzt kontrolliert es, indem er ein Maß daran legt, und zeichnet die Kurve dann selbst. Ottilie, mein Herr, hatte 36,9, Ottilie war fieberfrei.” [1]

So erzählt der temperamentvolle Italiener Settembrini dem Hamburger Ingenieur Hans Castorp einen eindrücklichen Fall vollständiger Akklimatisierung an eine Hochgebirgsklinik. Als Settembrini vermutet, Castorp habe - durch die neue Umgebung geschwächt - der Geschichte nicht ganz folgen können, erwidert dieser eilfertig: „Nein, wirklich, ich habe alles verstanden! Die Stumme Schwester ist also nur eine Quecksilbersäule, ganz ohne Bezifferung - Sie sehen, ich habe es vollkommen aufgefasst!”

1 Überarbeitete Fassung. Der ursprüngliche Artikel erschien in der Schweizerischen Zeitschrift für Medizin und medizinische Technik 1988; 10 (3): 31 - 34

Literatur

  • 1 Mann Thomas. Der Zauberberg. In: Gesammelte Werke 3. Verlag S. Fischer 1974: 124 f.
  • 2 Brief von Thomas Mann an Hans von Hülsen (1890 - 1968) Juni 1912, Dietmar Grieser: Schauplätze der Weltliteratur. München/Wien 1976: 16
  • 3 Löffler Wilhelm. 100 Jahre Davos auf medizingeschichtlichem Hintergrund. Bern/Stuttgart 1966: 19
  • 4 Mann Thomas. Der Zauberberg. In: Gesammelte Werke 3. Verlag S. Fischer 1974: 226-256
  • 5 Mann Thomas. Tagebücher 1918 - 1921. Verlag S. Fischer 1979: 554
  • 6 Vollmann Rudolf. Die Anfänge der klinischen Thermometrie. In: Ciba-Zeitschrift 93. Basel 1944: 3318
  • 7 Medical Record 50 vom 3.10.1896. 502
  • 8 Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte, Jg. 26. Basel 1896: 152
  • 9 Geschäfts-Berichte von C. Fr. Hausmann, Schweiz, Medicinal-, Sanitäts-, Grosso- und Fabrikations-Geschäft, 2. Jg. St. Gallen 1896: 36
  • 10 Livre d'or de Belles-Lettres de Neuchâtel 1832 - 1907. Neuchâtel 1909: 5
  • 11 Vulliemin Charles, Muyden Berhold van, Cart William. Le Collège Gaillard et son fondateur. Lausanne 1901: 160
  • 12 Akten Mercier im Züricher Staatsarchiv StAZ S. 322.1. Siehe auch Auguste Forel: Rückblick auf mein Leben. Zürich: Europa-Verlag 1935: 162
  • 13 Mercier Aimé. Les coupes du système nerveux central: Instruments de travail et accessoires, durcissement, enrobements, elaboration et manipulation des coupes, systèmes des series, methodes de coloration, imprégnation métallique etc. Paris: Ruef et Cio 1894
  • 14 Siehe Anm. 11. 

1 Überarbeitete Fassung. Der ursprüngliche Artikel erschien in der Schweizerischen Zeitschrift für Medizin und medizinische Technik 1988; 10 (3): 31 - 34

2 Bei der Zusammenstellung der biographischen Daten von Aimé Mercier waren P.Y. Favez (Waadtländische Kantonalarchive) und J. Courvoisier (Staatsarchiv des Kantons Neuenburg) in verdankenswerter Weise behilflich.

Prof. Dr. med. Christoph Mörgeli

Medizinhistorisches Institut und Museum der Universität Zürich

Hirschgraben 82

8001 Zürich

Schweiz

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