Dtsch Med Wochenschr 2007; 132(6): 255
DOI: 10.1055/s-2007-959315
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lehrbücher unter der Lupe

A close look to medical textbooksA. Brands1
  • 1Georg Thieme Verlag, Programmplaner Klinik und Praxis (Buch)
Further Information

Publication History

Publication Date:
01 February 2007 (online)

In dieser Ausgabe der DMW erscheinen zwei ungewöhnliche Artikel: Verlagspublikationen selbst werden zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Becker et al. (S. 256) wollten wissen, ob ein relativ junges Thema, die Palliativmedizin, adäquat in Lehrbüchern dargestellt wird. Dazu unterzogen sie 159 Lehrbuchkapitel aus 26 Büchern einer Analyse Satz für Satz. Raupach et al. (S. 261) sind mit ihrem Thema „Tabakkonsum” schon sicher im Curriculum verankert und waren in Lehrbüchern der Inneren Medizin der sauberen Verwendung der Begrifflichkeiten auf der Spur.

Becker et al. befürchten ein (zukünftiges) Missverhältnis zwischen Bedarf und qualifiziertem Angebot palliativmedizinischer ärztlichen Behandlung. Schon heute ist die Situation für Sterbenskranke schwierig: Dyspnoe, Schmerzen sowie Übelkeit und Erbrechen werden oft weder in häuslicher Betreuung noch im Krankenhaus gut beherrscht. Fragt der ungeübte Arzt bei palliativmedizinisch betreuten Patienten nach belastenden Symptomen, so erhebt er wahrscheinlich nur ein Zehntel der Befunde. In Zukunft werden mehr Menschen chronisch krank sein, länger mit der Krankheit leben und die Terminalphase länger erleben. Da liegt die Frage nach ausreichender Vermittlung notwendiger Kenntnisse an zukünftige Ärzte nah.

Studentische Lehrbücher bieten sich als bedeutende Informationsquelle zur Analyse an: Wie oft und wie hilfreich werden Aussagen zu klassischen bzw. zu palliativmedizinischen Inhalten gemacht? Gesucht wurde in weit verbreiteten Lehrbüchern, dort speziell in Kapiteln zu 13 chronischen Erkrankungen, die häufig zum Tode führen.

In den Kapiteln findet sich in 82 - 92 % kein Hinweis auf palliativmedizinische Lehre; am seltensten in der Chirurgie. Möglicherweise spiegelt dies die Wahrnehmung der ärztlichen Tätigkeit von Lehrbuchautoren wider, insbesondere wenn man sieht, dass in den Fallbeispielen aus der Chirurgie der Patient nie, in denen aus der Inneren Medizin immer stirbt. Zu bedenken ist allerdings, dass in 6 - 47 % der Kapitel auch kein Hinweis auf Inhalte der klassischen Lehre zu finden war, was hoffentlich mehr die methodischen Grenzen der Analyse aufzeigt als Mängel der Lehrbücher. Ungeachtet dessen bleibt die Feststellung, dass palliativmedizinische Inhalte in den Lehrbüchern kaum enthalten sind. Auch der schreibende Arzt befasst sich lieber mit den kurativen Aspekten seines Handelns als der Darstellung der letzten Wochen des infausten Verlaufs einer Krankheit. Wer schreibt schon gern darüber, dass z. B. ein Patient mit inoperablem Bronchial-Karzinom, dem wegen Erstickungsgefahr ein Stent in die Atemwege gesetzt wurde, wahrscheinlich zu Hause an einer Blutung aus einem arrodierten Gefäß sterben wird?

Becker et al. gehen von einer Prägung der Ärzte während der Studienzeit aus: Inhalte, Einstellungen und Konzepte, die in dieser Zeit nicht vermittelt werden, könnten später nur schwieriger erlernt werden. Wenn sich der Student in Lehrbüchern, Seminaren und beim bedside-teaching keine detaillierten Konzepte zur Palliativmedizin erarbeitet, tut er sich als junger Arzt mit palliativer Behandlung schwer. Die meisten Leser werden beim Rückblick auf den eigenen Start ähnliche Erfahrungen kennen: Schon mehr als ausreichend mit den kurativen Aufgaben ausgelastet, bleibt eher wenig Zeit zur intensiven Einarbeitung in neue Themen. Wenn dann später kein erfahrener Kollege in der Umgebung ist, der die Konzepte im Alltag vermitteln kann, bleibt die Betreuung oft auf einem suboptimalen Niveau stehen.

Die Palliativmedizin ist inzwischen ein Prüfungsfach - ein gutes Argument für Buchplaner und Autoren, sich näher mit diesem ambivalenten Thema zu befassen.

Raupach et al. sind einem subtileren Mangel auf der Spur: Der unscharfen Verwendung von Begrifflichkeiten zum Rauchen im Zusammenhang mit KHK und Bronchial-Karzinom. Auch hier wurden Lehrbücher analysiert. Prämisse für Raupach et al. ist, dass unsere Sprache Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. Die Verwendung von Begriffen wie „Nikotinabusus” oder „Nikotinkonsum” sei harmlos und hätte deshalb „erhebliche Auswirkungen” auf den Leser. Eine konkrete Beschreibung der Auswirkungen, die Raupach et al. befürchten, wäre sicher interessant gewesen. Richtig spannend hätte eine Befragung von Ärzten nach den verknüpften Inhalten mit dem Begriff Nikotinabusus sein können. Genauer Umgang mit Sprache ist in Lehre und Wissenschaft so erstrebenswert wie schwierig. So wird im Artikel von „Raucherentwöhnung” (statt Tabak-Entwöhnung) gesprochen, und „Rauchen” sowie „Übergewicht” werden im Fazit des Beitrags als Todesursachen bezeichnet. Konkrete Sensibilisierung für eine klare Wortwahl, wie im Falle des Tabakkonsums, sollte Anstoß für eine kritische Betrachtung der eigenen (Fach-)Wortwahl sein.

Dr. med. Alexander Brands

Georg Thieme Verlag

Rüdigerstraße 14

70469 Stuttgart

Email: Alexander.Brands@thieme.de

    >