Dtsch Med Wochenschr 2007; 132(23): 1287-1288
DOI: 10.1055/s-2007-982029
Kommentar | Commentary
Psychiatrie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anorexia competitiva

Das nosologische Konzept der Magersucht muss erweitert werdenCompetitive anorexiaThe time has come to widen the nosological conception of anorexiaW. A. Golder1
  • 1Association d`Imagerie Médicale, Troyes
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eingereicht: 19.4.2007

akzeptiert: 29.4.2007

Publication Date:
01 June 2007 (online)

Im vergangenen Jahr sind zwei anorektische südamerikanische Mannequins den Folgen ihrer Krankheit erlegen. Die 22-jährige Luisel Ramos aus Montevideo, die zum Schluss nur noch von Gemüse und Diätgetränken lebte, starb im August am plötzlichen Herztod. Auch die ein Jahr jüngere Brasilianerin Ana Carolina Reston soll sich in den letzten Monaten ihres Lebens ausschließlich von Rohkost ernährt und zudem den größten Teil des Essens wieder von sich gegeben haben. Sie erlag Mitte November in Sao Paulo den Folgen eines Multiorganversagens. Bei ihrem Tode wog sie noch 40 kg (Body-Mass-Index/BMI: 13,5). Ein ähnlich niedriges Körpergewicht ist von Lesley Hornby alias Twiggy dokumentiert, die Mitte der sechziger Jahre als überschlankes Model zu einiger Berühmtheit gelangte.

Der forcierte Nahrungsverzicht junger Frauen aus professionellen Gründen ist keine Entdeckung der letzten fünfzig Jahre. Aus dem 16. bis 19. Jahrhundert sind eine Reihe von „Wundermädchen” bekannt, die - durch monate- und jahrelanges Fasten auffällig geworden - von Besuchern und Bewunderern Geschenke erhielten und damit ihren Lebensunterhalt bestritten haben. Das niederländische Fastenwunder Engeltje van der Vlies wurde sogar als Attraktion in einen Reiseführer aufgenommen. Im Sommer 1826 besuchten mehr als tausend Leute den Ort, wo die damals 39-Jährige lebte, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass es ihr unmöglich war, etwas zu essen.

Die beiden tragischen Todesfälle in der lateinamerikanischen Modelszene haben auch in Europa Aufsehen erregt und sind publizistisch breitgetreten worden; das Leben und Sterben der mageren Mannequins wurde bis ins Detail bebildert und beschrieben. Die Modebranche hat die von der veröffentlichten Meinung geforderten Konsequenzen gleichsam aus dem Stand gezogen. Im September 2006 wurden fünf Mannequins wegen Untergewichts von der Teilnahme an der Fashion Week in Madrid ausgeschlossen. Ende des Jahres forderten italienische Designer, dass nur noch junge Frauen mit einem BMI von mindestens 18 den Laufsteg betreten dürften und darüber hinaus alle Models ein ärztliches Zeugnis vorlegen müssten, das ihnen einen guten Allgemein- und Gesundheitszustand attestiere.

Konsequenter Nahrungsverzicht ist nicht nur in der Welt der Mannequins zu einem wesentlichen Lebensinhalt geworden. Viele Mädchen und junge Frauen fasten, um dem als ideal empfundenen Äußeren der Models möglichst nahe zu kommen. Die Teenager-Magazine und die Werbung tragen diese Welle. Überschlanke Frauen werden nicht nur für ihre Disziplin bewundert, sondern gelten auch als gesellschaftlich besonders angesehen und erfolgreich. Vier von fünf Frauen glauben, ihr soziales Leben würde sich positiv verändern, wenn sie superdünn wären. Jede zweite Frau findet sich auch dann noch zu dick, wenn sie nominal das Idealgewicht erreicht hat. In US-amerikanischen Katalogen wird inzwischen Damenkonfektion in Größe Null („Size Zero”, „Double Zero”) angeboten. Diese Größe entspricht in Deutschland etwa Größe 32 und damit der Statur eines normal entwickelten 12-jährigen Mädchens.

Die Schlankheitskonkurrenz auf den Laufstegen ist keine Variante der Anorexia nervosa, auch wenn manche Mannequins Züge der Erkrankung zeigen. Nicht ein psychosomatisches Leiden, sondern der berufliche Erfolg fordert das Hungeropfer. Das Körpergewicht wird nicht deshalb reduziert, weil eine Abneigung gegen das Essen besteht, sondern um dem Körper die perfekte Kontur zu geben. Diese Form der Magersucht wird auch im Sport angetroffen. In manchen Disziplinen verschafft niedriges Körpergewicht - kombiniert mit hochentwickelten motorischen Fähigkeiten - einen erheblichen Vorteil gegenüber den Mitbewerbern bzw. macht die Teilnahme an Wettkämpfen mit Aussicht auf einen Spitzenplatz überhaupt erst möglich. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in den so genannten ästhetischen Sportarten (z. B. Turnen, rhythmische Sportgymnastik, Eiskunstlauf, Skispringen, Wasserspringen) sowie in Akrobatik, Ballett und Tanz. Ein BMI < 17 ist bei Turnerinnen und Gymnastinnen der Weltklasse die Regel und nicht die Ausnahme.

Sundgot-Borgen [1], der an der norwegischen Universität für Sport und Körpererziehung in Oslo lehrt, hat in der ersten Hälfte der neunziger Jahre für die trainings- und wettkampfassoziierte exzessive Kalorienrestriktion von Sportlerinnen den Terminus Anorexia athletica geprägt und in die Sportdiätetik und Sportpsychologie eingeführt. Er fand bei den von ihm befragten untergewichtigen Elite-Athletinnen nur selten eine vorbestehende Ess-Störung, sondern konnte zeigen, dass die Art des gewählten Sports der entscheidende Faktor für die Prävalenz und Dimension des Nahrungsverzichts war. Technische Sportarten und Ballspiele waren weniger betroffen als der Ausdauersport und die ästhetischen Disziplinen. Diese Beobachtung machte man sowohl bei Einzelkämpfern wie bei Teamsportlern. Als Risikofaktoren wurden besonders früher Beginn mit dem Wettkampftraining und Pubertätskonflikte identifiziert. Körpergewicht und äußere Erscheinung der Spitzenathleten werden für die Betroffenen zum Maßstab für den eigenen Diätplan. Das Fasten wird entweder aus eigenem Antrieb oder auf Anraten von Bezugspersonen aufgenommen und nimmt mit der Intensität des Trainings zu, d. h. vor Wettkämpfen wird besonders brutal gehungert. Wiederkehrende Gewichtsschwankungen - wenn auch auf niedrigem Niveau - sind daher die Regel.

Die Hungerszenarien der Haute Couture und des Spitzensports sind sich eigentümlich ähnlich. Auch andere Konkurrenzsituationen, in denen für den professionellen Erfolg auf kalorisch ausreichende Ernährung verzichtet wird, beispielsweise die Vorbereitung auf ein Casting für bestimmte figurbetonte Rollen in Film oder Fernsehen, fallen in diese Kategorie. Das bisher gültige nosologische Konzept der Magersucht berücksichtigt diese Varianten nicht ausreichend. Um die notwendige Erweiterung begrifflich sichtbar zu machen, liegt es nahe, den Terminus der Anorexia athletica zu verlassen und durch eine breiter anwendbare Variante zu ersetzen. Hierfür bietet sich Anorexia competitiva an. Das neue Fachwort berücksichtigt besser als sein Vorgänger den Wettbewerb und das Streben nach Perfektion als wesentlichen Initiativfaktor für den Nahrungsverzicht und ist universell, d. h. nicht nur auf Sportler anwendbar.

Die Diagnose Anorexia competitiva liegt dann nahe, wenn Mädchen und junge Frauen bei der Wahl eines Berufs oder Sports, in dem Schlankheit Voraussetzung für den Erfolg ist, und/oder im Hinblick auf Auswahlentscheidungen in der gewählten Disziplin extremen Nahrungsverzicht üben. Das Hungern wird durch teilweise drastische abführende Maßnahmen und die Einnahme von Medikamenten, die den Appetit zügeln und gleichzeitig die Leistungsbereitschaft steigern, ergänzt und kulminiert in so genannten Crashdiäten. Verzögerte psychosexuelle Reifung und Anfälle von Heißhunger gehören nicht zu den typischen Zeichen der neuen nosologischen Entität. Die Anorexia competitiva kommt im Gegensatz zur Anorexia nervosa zum Stillstand, wenn die Herausforderung durch den beruflichen Wettbewerb entfällt, d. h. in der Regel gegen Ende der Karriere. In den Hungerjahren haben die betroffenen Frauen mit Menstruationsstörungen, reduzierter Mineralisation des Knochens und einem gesteigerten Risiko für unfallbedingte Verletzungen zu rechnen. Spitzensportler bleiben vor den extremen Folgen der Magersucht meist bewahrt, weil ihre Trainer um die Bedeutung der richtigen Ernährung für die sportliche Leistung wissen und entsprechende Instruktionen geben. Vielen Models und vielen anderen Frauen und Mädchen, die als Reaktion auf ausgeprägten professionellen und/oder sozialen Druck nur noch ein Minimum an Kalorien zu sich nehmen, fehlt eine ähnlich sachverständige Vertrauensperson, die sie vor körperlichem Verfall und Krankheit durch das extreme Hungern bewahrt.

Konsequenz für Klinik und Praxis

  • Die selbstgewählte extreme Abmagerung von Mädchen und jungen Frauen ist nicht in jedem Fall Folge einer Anorexia nervosa.

  • Wenn der Nahrungsverzicht durch eine Wettbewerbssituation provoziert wird, sollte man besser von Anorexia competitiva sprechen.

  • Der neue Terminus ersetzt den in den 1990er Jahren eingeführten Begriff Anorexia athletica. Durch diesen Wechsel wird das nosologische Konzept der Magersucht aktualisiert.

Literatur

  • 1 Sundgot-Borgen J. Risk and trigger factors for the development of eating disorders in female elite athletes.  Med Sci Sports Exerc. 1994;  26 414-419

Prof. Dr. med. Werner A. Golder

SELARL Association d`Imagerie Médicale

65 Rue Raymond Poincaré

F-10000 Troyes

Email: werner.golder@orange.fr

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