Fortschr Neurol Psychiatr 1995; 63(1): 30-37
DOI: 10.1055/s-2007-996600
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kleinhirn und Kognition - psychopathologische, neuropsychologische und neuroradiologische Befunde

Cerebellum and Cognition - the Neuropsychological and Neuroradiological EvidenceH.  Ackermann1 , I.  Daum2
  • 1Neurologische Klinik der Universität Tübingen
  • 2Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen
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Publication Date:
10 January 2008 (online)

Abstract

It is a classical topic of clinical neurology that cerebellar dysfunctions give rise to motor deficits but spare the sensory and mental domains. Since the last century, however, cognitive decline occasionally has been attributed to diseases and lesions of the cerebellum. In recent years this assumption has gained in importance. The recent literature puts forward four arguments in favour of this suggestion:

a) The neocerebellum has large reciprocal fibre connections with the association areas of the cerebral cortex.
b) Functional imaging studies revealed activation of circumscript cerebellar regions during cognitive tasks.
c) Patients with cerebellar malformations and diseases, respectively, may present with psychopathological signs and neuropsychological deficits.
d) Atrophy of the cerebellum has been reported in schizophrenic and autistic syndromes.

The present review aims at a critical evaluation of the relevant clinical and neuropsychological literature. So far there is no convincing evidence that lesions and diseases restricted to the cerebellum give rise to dementia or to impaired verbal and visual memory functions. With respect to specific perceptual tasks such as the discrimination of time intervals, problem solving, and visuospatial functions, no definite conclusion is possible so far. Some studies revealed cerebellar atrophy in schizophrenic and autistic patients. However, the functional relevance of these findings must be questioned since cytoarchitectonic alterations in extracerebellar areas, e.g. the basal forebrain, are present in these disorders as well.

Zusammenfassung

Ein klassischer Lehrsatz der klinischen Neurologie besagt, daß Kleinhirnfunktionsstörungen motorische Defizite hervorrufen, sensible und intellektuelle Leistungen aber nicht beeinträchtigen. Seit dem vergangenen Jahrhundert wurden allerdings von einzelnen Autoren dem Kleinhirn immer wieder auch kognitive Funktionen zugeschrieben. Neuere Arbeiten bringen im wesentlichen vier Argumente zugunsten dieser Annahme vor:

a) Das Neozerebellum weist ausgedehnte reziproke Faserverbindungen mit dem zerebralen Assoziationskortex auf.
b) Untersuchungen mittels funktioneller Bildgebung zeigen, daß es im Rahmen kognitiver Aufgaben auch zu einer Aktivierung umschriebener zerebellärer Strukturen kommt.
c) Bei Patienten mit Malformation oder degenerativer Erkrankung des Kleinhirns wurden psychopathologische Auffälligkeiten und neuropsychologische Defizite beschrieben.
d) Im Rahmen schizophrener und autistischer Erkrankungen soll gehäuft eine Verschmächtigung des Zerebellums zu beobachten sein.

Die vorliegende Übersichtsarbeit will die klinische und neuropsychologische Literatur zu dieser Fragestellung einer kritischen Evaluation unterziehen. Es zeigt sich, daß auf das Kleinhirn beschränkte Läsionen nicht mit einer dementiellen Entwicklung einhergehen und die Merkfahigkeit von verbalem oder visuellem Material nicht herabsetzen. Allerdings ergeben sich Hinweise auf umgrenzte Leistungseinbußen im perzeptiven Bereich, bei Problemlöseaufgaben und in bezug auf visuell-räumliche Funktionen. Einige neuroradiologische und pathologisch-anatomische Untersuchungen dokumentierten atrophische Veränderungen des Zerebellums bei schizophrenen und autistischen Patienten. Ob einer evtl. Verschmächtigung des Kleinhirns im Rahmen der genannten psychiatrischen Erkrankungen allerdings eine funktionelle Bedeutung zukommt, ist noch unklar, da sowohl bei der Schizophrenie als auch beim Autismus zytoarchitektonische Veränderungen extrazerebellärer Strukturen vorliegen.

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