Fortschr Neurol Psychiatr 1995; 63(3): 106-120
DOI: 10.1055/s-2007-996609
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Bedeutung von Herzfrequenzanalysen bei psychiatrischen Fragestellungen

Heart Rate Analyses in Psychiatric QuestioningsT.  Rechlin
  • Psychiatrische Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
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Publication Date:
10 January 2008 (online)

Abstract

Heart rate analyses have become an important diagnostic tool for the assessment of autonomic nervous system function. Measurements of heart rate variability (HRV) have been frequently used to establish criteria for a cardiovascular autonomic neuropathy (CAN). Methods of HRV have also been applied to unmedicated patients with psychiatric disorders and to investigate the impact of psychotropic drugs on autonomic cardiac functions.

In one of our studies 20 % of patients with alcohol dependence (n = 60) fulfilled the criteria of CAN as a result of vagal neuropathy. In other psychiatric disorders clearcut abnormalities of autonomic regulation have not yet been found. However, there is an increasing number of pointers suggesting that patients with panic disorders show a predominance of sympathetic cardiac control, while patients with melancholic depression might show a lack of parasympathetic control.

Under the condition of treatment with either 150 mg of a tricyclic antidepressant (TCA) or 300 mg of clozapine per day, HRV-parameters were found to be significantly decreased and the majority of the patients fulfilled the criteria of CAN, whereas the selective inhibitors of serotonin (SSRI) given in usual dosages had no effect on HRV-parameters.

In another study with depressed patients treated with TCA, HRV-parameters were found to be helpful in understanding mood-altering chronobiological mechanisms.

The results presented make clear that research on autonomic functions is not only useful in neurological diseases, but also in psychiatric disorders especially under the conditions of psychopharmacological treatment.

Zusammenfassung

Die computerisierte Erfassung von kardialen Parametern, die der Kontrolle des autonomen Nervensystems unterliegen, hat in den letzten Jahren Eingang in die neurologische Routinediagnostik gefunden. Statistische Kenngrößen der Herzratenvariabilität (HRV) ermöglichten es, z.B. bei Patienten mit Diabetes mellitus, standardisierte Kriterien für das Vorliegen einer kardiovaskulären autonomen Neuropathie (CAN) zu definieren. In der vorliegenden Arbeit wird dargestellt, inwieweit Herzfrequenzanalysen auch bei psychiatrischen Fragestellungen helfen können, die Abläufe des autonomen Nervensystems (ANS) zu untersuchen. In einer unserer Studien erfüllten 20 % der Patienten mit Alkoholabhängigkeit die Kriterien einer CAN.

Hinsichtlich anderer psychiatrischer Erkrankungen zeigen die bisher vorliegenden Studien, daß eindeutige Veränderungen der kardialen, autonomen Steuerung nicht erkennbar sind. Trotzdem ergibt sich ein Trend dergestalt, daß bei Patienten mit Angst- und Paniksymptomatik ein Überwiegen der Sympathikusaktivität vorliegt. Patienten mit endogener Depression können dagegen eine Minderung ihrer parasympathischen Aktivität aufweisen.

Unter Behandlung mit 150 mg eines trizyklischen Antidepressivums (TCA) oder 300 mg Clozapin kommt es zu einer hochgradigen und in ihrem Ausmaß überraschenden Minderung der HRV, die wahrscheinlich Folge der anticholinergen Effekte dieser Medikamente ist. Die abnorme Erniedrigung von HRV-Parametern unter TCA-Therapie kann diagnostisch dazu beitragen, Überdosierungen und Intoxikationen mit diesen Medikamenten zu erkennen. Die selektiven Wiederaufnahmehemmer des Serotonins (SSRI) bewirken dagegen in klinisch üblicher Dosierung keine Veränderung der HRV.

Erste Untersuchungen an TCA-behandelten depressiven Patienten zeigen, daß die Bestimmung autonomer Parameter auch das Verständnis chronobiologischer Abläufe wie etwa Tagesschwankungen der Befindlichkeit erweitern kann.

Studien, die auf Funktionsabläufe des ANS fokussieren, zeigen sowohl bei neurologischen als auch bei psychiatrischen Patienten interessante Befunde, ein Sachverhalt, der trotz zahlreicher divergenter Entwicklungen der beiden Fächer gemeinsame Forschungsstrategien erkennen läßt.

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