Balint Journal 2008; 9(4): 109-111
DOI: 10.1055/s-2008-1004692
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Wer sind wir? – „Epidemiologische Untersuchung zur Entwicklung der Balintarbeit in Deutschland (1970–2000)”

Who Are We? – Some Epidemiologic FactsE. R. Petzold
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Publication Date:
29 December 2008 (online)

Zu berichten ist über eine epidemiologische Untersuchung zur Entwicklung der Balintarbeit in Deutschland, weil sich viele Kolleginnen und Kollegen der DBG an dieser Untersuchung beteiligt hatten.

Die Fragen zur Berufspolitik und vor allem zur Weiterbildungsordnung bewegte Ärzteschaft (Deutsche Ärztetag als Repräsentant) und Politik spätestens seit der Enquete zur Lage der Psychiatrie und Psychotherapie in der BRD 1975 sehr stark. Beispielhaft dafür war das Referat von P. Janssen auf der DKPM-Tagung in Düsseldorf am 15.11.1984: Zur Einführung einer neuen Gebietsbezeichnung „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie” aus der Sicht der psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung. Nach kurzer, knapper Sichtung der Datenlage, der defizitären Versorgung auf dem Hintergrund einer unzureichenden Fort- und Weiterbildung kam er zu dem Vorschlag eines dreistufigen Qualifikationsmodells. In der ersten Stufe der Basisversorgung hieß es: „Diese Weiterbildung könnte in „Balintgruppenarbeit”, in Kenntniserwerb von Autogenen Training, von gesprächspsychotherapeutischen oder verhaltenstherapeutischen Techniken zur psychosomatischen Beratung und Gesundheitsberatung bestehen”. Auf der 2. Stufe wären Ärzte tätig, die neben einer Weiterbildung in einem Gebiet berufsbegleitend die Bereichsbezeichnung „Psychotherapie” oder „Psychoanalyse” erworben haben … Auf der 3. Stufe käme der Spezialist. Diese Vorschläge wurden in der folgenden Diskussion weiter modifiziert und entwickelt. Eine vorzügliche Übersicht findet man in dem Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeuten Gesetzes 1991 von A. E. Meyer et al., das 1998 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde.

In diese Zeit fiel dann der Beginn der Dissertation von Frau Foitzig. Viele Fragen und Antworten sind zwischenzeitlich weitergegangen, Fragen zu der N. A. O., die 2004 eingeführt wurde, Fragen zur Weiterbildung, die auf den jeweiligen Ärztetagen diskutiert und weiterentwickelt wurden, auch Fragen zur Berufspolitik, sodass zu mindest dieser Teil der Arbeit von Frau Foitzig marginal sein dürfte, obwohl auch hier Lösungsmöglichkeiten für weiter bestehende Konfliktfelder angesprochen werden, beispielsweise in dem definitorischen Verständnis der Balintarbeit, beispielsweise in der Begriffsklärung für die Begriffe: 1. Biopsychosozial, 2. nervenheilkundlich und 3. anthropologisch.

1. geht auf George Engels zurück, (s. Th. v. Uexcüll: Psychosomatische Medizin, 6. A. 2003). 2. ist eine ältere Bezeichnung aus der Zeit, als die Psychiatrie und die Neurologie noch nicht getrennt waren (1923). Auch Innere Medizin und Allgemeinmedizin hatten damals noch eine gemeinsame Basis. Den 3. Begriff warf der Referent selbst in die Debatte, um dem leidigen Dilemma zwischen den verschiedenen Auffassungen Psychiatrie, Psychosomatik … eine neue Grundlage zu geben, nicht zuletzt auch, weil in der Balint-Gesellschaft zwischenzeitlich fast ebenso viele Psychiater eine Heimat gefunden hatten wie Allgemeinmediziner, was Frau Foitzig deutlich herausarbeiten konnte.

Frau Foitzig beginnt ihre Arbeit mit einer kleinen Einführung in die Thematik, Anfänge und geschichtliche Entwicklung der Balintarbeit. Während die erste Ideenentwicklung in dem Ungarn der dreißiger Jahre zu suchen ist – Ungarn war das Herkunftsland Michael Balint's – ist der eigentliche Beginn der Zusammenarbeit von Allgemeinmedizinern und Psychoanalytikern in London anfangs der Fünfzigerjahre zu suchen, eindrucksvoll dargestellt als „Training cum research in relationship” in dem Buch von Michael Balint: „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit” (1957). Frau Foitzig beschreibt den „Siegeszug” dieses Buches und der darin enthaltenden Konzeption der Kontinuität der „Arzt-Patient-Beziehung” als „kleinsten medizin-ethischen Nenner” (E. R. Petzold), in dem Ursprungsland UK, in Frankreich, der Schweiz, den Niederlanden, Skandinavien, Ungarn, Rumänien, den Vereinigten Staaten und mit einiger Verzögerung dann auch in der BRD, wo die Deutsche Balint Gesellschaft anfangs der Siebzigerjahre (1974) gegründet wurde. Nach diesem Rückblick wertet sie den eher spärlichen Evaluationsstand der Balintgruppenarbeit aus, ein Defizit, dass möglicherweise in der doch sehr persönlichen ärztlichen Arbeit selbst liegt, in einer Evidenz, die im Erleben liegt (immanent ist) und durch quantifizierende Operationalisierungen kaum einzufangen. Trotzdem hat sich Frau Foitzig nach zwei Umfragen unter den Lehrbeauftragten für Allgemeinmedizin in der BRD und bei den Hochschullehrern für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin (so hieß das Fach damals) nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten mutig dieser Frage gestellt. Dabei wurde sie von der Deutschen Balint-Gesellschaft unterstützt. Sie entwickelte einen Fragebogen, der 1999 an alle damaligen Mitglieder dieser Gesellschaft verschickt wurde (n = 958). Nach dem ersten Rücklauf bis März 2000 kam sie mit einem zweiten Versuch auf 303 Fragebögen, von denen 292 für die vorliegende Arbeit berücksichtigt werden konnten. Bei der Auswertung hielt sie sich an das Statistikprogramm SPSS. Nicht in allen Fragebögen wurden alle Fragen beantwortet, wodurch natürlich die Aussagekraft dieser Untersuchung eingeschränkt wurde.

Ihre „Ergebnisse” werden in dem Hauptkapitel (Kap. 4) dieser Arbeit auf fünfzig Seiten (S. 38–90) mit 26 Abbildungen und 35 Tabellen komprimiert. Ich beschränke mich hier aus Platzgründen auf ein paar ausgewählte Ergebnisse, ohne Kommentar oder Bewertung.

In dem untersuchten Sample überwog der Anteil der Männer mit 58,9 %. Der Anteil der Frauen betrug 41,1 %, das Durchschnittsalter lag mit 52 Jahren relativ hoch. Die Mehrzahl der Befragten war im Alter zwischen 45 und 59 Jahren. Erfahrungen als Balintgruppenleiter hatten zwischen 1974 und 1976 knappe 5 % (12 von 232). Diese Zahl verdreifachte sich bis 1994 (34 von 232).

Heute (März 2007) gibt es 605 Balintgruppenleiter, die auf den Studien- und Leitertagungen der DBG weitergebildet wurden.

Welche Ausbildung nun hatten diese Befragten? 14,5 % hatten eine Ausbildung, ein Drittel hatten zwei Ausbildungen absolviert und ebenso viele drei. Das Projekt „Lebenslanges Lernen” ist demnach kein neues Thema unserer Zeit. Natürlich interessierten die verschiedenen Fachrichtungen. Bei Ärzten mit nur einer Fachrichtung stand der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie an erster Stelle, gefolgt von den psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten für Psychotherapeutische Medizin und Allgemeinmedizin. Bei der Kombination mit zwei Ausbildungen hatte sich das Bild verändert. Jetzt war der Arzt für Allgemeinmedizin mit dem Zusatztitel Psychotherapie / Psychoanalyse mit 31 % an die erste Stelle gerückt, gefolgt von dem Arzt für Psychotherapeutische Medizin und dem Arzt für Gynäkologie mit demselben Zusatztitel. Bei Fachärzten mit drei Ausbildungen stand der Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie mit dem Zusatztitel Psychotherapie / Psychoanalyse an erster Stelle, gefolgt von dem Allgemeinarzt und mit der 2. Fachrichtung Psychotherapeutische Medizin und dem o. g. Zusatztitel.

Zu den vier wichtigsten Arbeitsfeldern, in denen Balintgruppen abgehalten werden, zählen Praxis, Klinik, Weiterbildungsinstitute und die psychosomatischen Lehrstühle. Die meisten der befragten Balintgruppenleiter und Co-Leiter (67 %) arbeiteten in nur einem dieser Felder, 27,5 % in zwei Feldern, 5,8 % in drei. Am häufigsten wurde die Praxis genannt (73 %), gefolgt von Weiterbildungsinstitut (31,6 %), Klinik (30,4 %) und Lehrstuhl (3,5 %).

Wo aber lag der Ursprung des Interesses für Balintarbeit? In der ersten Linie in der Teilnahme an einer Balintgruppe (weshalb die Entscheidung die Balintarbeit in das Curriculum für Allgemeinmedizin aufzunehmen, sicher richtig war). Andere Kollegen fanden den Zugang bei der psychotherapeutischen Ausbildung, bei Psychotherapiekongressen oder bei Balintstudientagungen, die von der Deutschen Balint Gesellschaft in der ganzen BRD organisiert werden. Beweggründe für die Teilnahme waren u. a. „Unzufriedenheit mit einer einseitig praktizierten somatischen Medizin, Integrationsabsichten, psychosoziale Kontakte, Unbehagen in der Arzt Patient Beziehung und auch die Hilflosigkeit in der Betreuung von sterbenden und krebskranken Patienten. Dies ist nur eine Auswahl der persönlichen Äußerungen.

Ursprünglich wurden Balintgruppen ausschließlich für Ärzte und allenfalls für Sozialarbeiter angeboten, da Michael Balint's Frau Enid aus diesem Gebiet kam und hier die ersten Erfahrungen mit diesem Ansatz gesammelt hatte. In dem hier befragten Sample waren 56,2 % rein ärztliche Gruppen, 42,6 % gemischt z. B. mit Krankenschwestern und Pfleger. Ein Drittel aller befragten hatten Studenten, Pj-ler und AiP-ler integriert. Positiv korrelierte die Zustimmung zur Teilnahme von Studenten an Balintgruppen mit dem Fortschreiten im Studium. Von 11,4 % in der Vorklinik auf 87,1 % im A. i. P. Die „Dauer” der einzelnen Gruppensitzungen lag in der Mehrzahl der Fälle bei 90 Minuten oder darüber. Die Teilnahme erstreckte sich bei 21,0 % auf unter 1,5 Jahre, bei 56 %, 9 % lag sie darüber (!). Co-Leiter gab es bei 33,6 %, gegenüber keine Co-Leiter (66,4 %).

Gab es „ergänzende Methoden” zu der Gesprächs-orientierten Technik Balints? Knapp die Hälfte der Befragten bestätigten dies (43,2 %). In einer übersichtlichen Tabelle werden die verschiedenen Methoden aufgezählt. Zu den häufigsten Ergänzungen gehören das Rollenspiel (42,1 %), systemische Konzepte (40,5 %) und die aktive Imagination (27,8 %).

Prof. Dr. med. E. R. Petzold

Goethestraße 5

72127 Kusterdingen

Email: rpetzold@gmx.de

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