Balint Journal 2008; 9(4): 104-108
DOI: 10.1055/s-2008-1004699
Junges Forum

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Manchmal müssen sie gehen

Sometimes They Must GoE. Ströh
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Publication Date:
29 December 2008 (online)

Als ich das PJ in der Psychosomatik in Tübingen begann, glaubte ich zu wissen was auf mich zukommt. Nach dem Abitur hatte ich mehrere Monate in einer psychosomatischen Klinik ein Praktikum absolviert. Ich kannte die Therapien, die Krankheitsbilder waren mir nicht neu und auch der Umgang mit den Patienten löste in mir eher Spannung und positive Motivation aus als Angst und Unsicherheit. Und doch sollte ich bald merken, dass all die Erfahrung, das Interesse und die gesunde Menschenkenntnis für andere sowie für sich selber, einen nicht davor bewahrte eine völlig neue Seite in sich zu entdecken und zu spüren. Dass das theoretische Wissen über die jeweiligen Krankheitsbilder einem nicht hilft in die immer wieder gleichen Fallen zu tappen und sich am Ende zu sagen: „Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen!”

Ich hatte schon einige Patienten kennengelernt bevor Frau S auf Station kam. Vornehmlich junge Patientinnen mit Anorexie und einem eisernen Willen. Frau S platzte in diese „eiserne Runde” wie ein Paradiesvogel. Ich sah eine junge Frau von Anfang 20 mit einem harten Gesichtsausdruck und einer künstlich anmutenden, abfälligen Erscheinung. Ihre Haare erschienen zu schwarz, ihre Haut zu braun, die Augen zu blau und das Décolleté zu tief. Immer wenn ich sie sah, hatte ich den Eindruck in einem Theater zu sitzen. Sie schien eine perfekte Rolle zu spielen und als ob sie dies bestätigen wollte, erklärte sie an ihrem Aufnahmetag: „Also, irgendwie ist das mit dem Essen in der letzten Zeit etwas aus dem Ruder geraten, ich hatte am Ende bis zu drei Ess-Brechattacken am Tag. Und da ich bald als Au-pair in die USA will, passt das nicht mehr so gut dazu. Außerdem will ich diese Schnitte am Arm loswerden, vielleicht kann man die weglasern lassen, oder so … Schließlich will ja niemand ein Au-pair haben, dass sich selber verletzt hat.”

Als ich das zum ersten Mal hörte, schauderte es mich bei dem Gedanken, sie würde auf Kinder aufpassen, deren Eltern nichts von ihrer Erkrankung ahnen.

Im folgenden Teil möchte ich gerne etwas über die Begegnungen mit Frau S in den unterschiedlichen Therapien und Situationen erzählen in denen ich sie erlebt hatte …

E. Ströh

Steinbößstr. 26

72074 Tübingen

Email: emely@web.de

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