Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2008; 52(1): 14-25
DOI: 10.1055/s-2008-1044068
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Erfahrungen mit der homöopathischen Arznei Staphisagria - Teil  3[1]

Christoph Thomas
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29 May 2008 (online)

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit zieht eine Zwischenbilanz einer siebeneinhalbjährigen systematischen Erforschung der Arznei Staphisagria und schildert die erzielten Resultate. Es wird die Beobachtung mitgeteilt, dass für einen bedeutenden Anteil der Patienten des Verfassers - nämlich für diejenigen, welche Staphisagria benötigen - die Arzneimittelfindung nach der von Jost Künzli von Fimmelsberg gelehrten Methode der Arzneimitteldiagnostik nach den Zeichen und Symptomen des Patienten zumeist nicht gelingt. Deshalb ist es nach Auffassung des Verfassers wichtig, Künzlis Methode der Arzneimitteldiagnostik um die spezifische Diagnostik der Arznei Staphisagria zu ergänzen. Es hat sich der überraschende Befund ergeben, dass Staphisagria das passende Heilmittel für fast alle der zahlreichen bis dahin ungelösten Fälle in der Praxis des Verfassers darstellt. Dies hat den nicht weniger überraschenden Befund zur Folge, dass eine erfolgreiche Behandlung der großen Mehrzahl der chronischen Krankheitsfälle des Verfassers mit sehr wenigen homöopathischen Arzneien gelingt. Es wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die in Constantin Herings Arzneimittellehre „The Guiding Symptoms of Our Materia Medica” mitgeteilten klinischen Verifikationen überhaupt echten Heilungen entsprechen. Auf die Bedeutung des körperlichen Aussehens für die Bestimmung von Staphisagria wird hingewiesen. Schließlich wird ein Beschwerdebild beschrieben, welches sich nach Beobachtung des Verfassers entwickeln kann, wenn die Arznei Staphisagria nicht erkannt wird in Fällen, in denen sie indiziert ist, und stattdessen über längere Zeit hinweg unpassende Heilmittel verabreicht werden.

Summary

An interim balance of seven and a half years of systematic research of the remedy Staphisagria and its results. It has been observed that for an important part of the patients of the author - those who need Staphisagria - the remedy-diagnostics as taught by Jost Künzli v. Fimmelsberg do not work out in most cases. The author suggests therefore to complement the method by Künzli with the specific diagnostics of Staphisagria. Surprisingly, Staphisagria has proven to be the suitable remedy for the majority of the many unsolved cases of the author's practice. Consequently, the majority of chronic cases of the author can be treated successfully with very few remedies. The question arises, to what extent the clinical comfirmations of Constantin Hering's „The Guiding Symptoms of Our Materia Medica” correspond to cases of genuine healings. The significance of physical signs for the selection of Staphisagria is demonstrated as well as a state of disposition which can develop, as experienced by the author, when the indicated Staphisagria has been missed and unsuitable remedies have been prescribed for a longer period instead.

01 Meinen Eltern zugeeignet, meiner Mutter Helga Thomas und dem Andenken an meinen Vater, den anthroposophischen Kinderarzt Dr. med. habil. Harald Thomas (1919-1998) aus Taucha bei Leipzig.

Literatur

  • 01 Begemann H. Agranulozytose nach chirurgischen Eingriffen. Inaugural-Dissertation. Düsseldorf; Dissertations-Verlag G. H. Nolte 1941
  • 02 Bresch C. Klassische und molekulare Genetik. Berlin, Heidelberg, New York; Springer-Verlag 1965
  • 03 Hahnemann S. Organon der Heilkunst. 6. Auflage. Bearbeitet u. herausgegeben v. Josef M. Schmidt Heidelberg; Karl F. Haug Verlag 1992
  • 04 Hahnemann S. Die chronischen Krankheiten, ihre eigenthümliche Natur und homöopathische Heilung. Band 1, 2 Auflage. Dresden und Leipzig: Arnoldsche Buchhhandlung; 1835. Reprint Berg am Starnberger See; Barthel & Barthel Verlag 1983
  • 05 Hering C. The Guiding Symptoms of our Materia medica. Vol. 1-10. Reprint New Dehli; B. Jain Publishers 1984
  • 06 Kent J T. Zur Theorie der Homöopathie. Vorlesungen über Hahnemanns Organon. Übersetzt von J. Künzli von Fimmelsberg. 4. Auflage Heidelberg; Karl F. Haug Verlag 1996
  • 07 Künzli von Fimmelsberg J. Interview with Dr. Jost Künzli from St. Gall, Switzerland, during his brief visit to San Francisco to attend the International Homeopathic Congress. Homoeotherapy. Organ of the Homeopathic Physicians of the Pacific San Franzisco, San Diego, Ecinatas, Dallas [HTH]; 1974 1, no. 1: 3-7
  • 08 Künzli von Fimmelsberg J. Kent's Repertorium Generale. English Edition Berg am Starnberger See; Barthel & Barthel Publishing 1987
  • 09 Künzli von Fimmelsberg J. Ichthyosis congenita - Patientin Margit P.  DJH. 1990;  9 23-25
  • 10 Schmidt P. Heilmittel gegen die drei chronischen Miasmen Hahnemanns (Psora, Sykosis, Syphilis).  ZKH. 1964;  8 57-63
  • 11 Spinedi D. Der Gemütszustand als Hilfe bei der Arzneimittelfindung nach Paragraph 211 und 212 des „Organon”.  ZKH. 2001;  45 3-25
  • 12 Staeudinger M. Dr. Künzli's Diskussionsbeiträge in Athen (Ligatagung 1988).  DJH. 1988;  7 132-134
  • 13 Thomas C. Radiogene Läsionen als Begleitreaktionen in der Strahlentherapie. Eine Synopsis klinischer Ergebnisse und beschriebener Fälle, dargestellt entlang ausgewählter Organsysteme. Inaugural-Dissertation München; 1983
  • 14 Thomas C. Ein Fall von Aplasie des Knochenmarks bei einem 8 1/2 Monate alten weiblichen Säugling nach Überdosierung von nicht-indiziertem Silica D 6 und Mercurius cyanatus D 6. Vortrag auf dem 46. Kongress der Internationalen Liga homöopathischer Ärzte Köln; 1991 In französischer Sprache in: Atmandjan, Anais (ed.): Compte rendu selectionne - 46ème Congrès Ligue Medicale Homoeopathique Internationale Cologne 6-11 Mai 1991. Paris, 1991: 22-46 sowie in: Groupement Hahnemannien du Docteur Pierre Schmidt, 1993 (30): 378-398. In ungarischer Sprache: Simile (Budapest) 2003; 10: 76-92
  • 15 Thomas C. Begegnung mit Herbert Begemann - sein Konzept einer „Ökologischen Medizin”. Festvortrag, gehalten auf der 146. Jahrestagung des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte am 25.5.1995 in Erfurt
  • 16 Thomas C. Colitis ulcerosa bei einem 19-jährigen jungen Mann - ein typischer Praxisfall einer klassisch-homöopathischen Behandlung im kontinuierlichen Langzeitverlauf über zehn Jahre. Vortrag auf dem 55. Kongress der Internationalen Liga homöopathischer Ärzte, Budapest, 2000.In ungarischer Sprache: Simile Budapest; 2000 7 3 16-23
  • 17 Thomas C. Erfahrungen mit der homöopathischen Arznei Staphisagria.  ZKH. 2005;  49 125-137
  • 18 Thomas C. Erfahrungen mit der homöopathischen Arznei Staphisagria - Teil 2.  ZKH. 2006;  50 28-39
  • 19 Thomas C. Ein Junge mit Adenoiden, rezidivierender Otitis media und Mukotympanon - Staphisagria.  ZKH. 2006;  50 156-170
  • 20 Thomas H. Röntgenologische Differentialdiagnose angeborener Schädelweichheit. European Soc. Pediatric Radologists Stockholm; Meeting of Pediatric Radologists 1965
  • 21 Vermeulen F. Konkordanz der Materia Medica - Hering inbegriffen. Haarlem/Holland; Emriss bv Publishers 2000

Anmerkungen

01 Meinen Eltern zugeeignet, meiner Mutter Helga Thomas und dem Andenken an meinen Vater, den anthroposophischen Kinderarzt Dr. med. habil. Harald Thomas (1919-1998) aus Taucha bei Leipzig.

02 Mir ist kein einziger homöopathischer Arzt begegnet, dem diese Schattenseiten so bewusst waren wie Dr. Künzli. Über Jahre hat er mich immer wieder dazu angehalten, mein Hauptaugenmerk bei der homöopathischen Behandlung nicht auf die Erfolge, sondern auf die Misserfolge zu richten. Während vier Jahren, die ich ab Januar 1987 Künzlis Züricher Vorlesung besucht habe, habe ich vor und nach fast jeder seiner Vorlesungen lange persönliche Gespräche zu zweit mit ihm führen können - vorher in einer gemeinsamen Ruhepause im Lichthof der Universität Zürich und hinterher auf unserem gemeinsamen Weg zum Hauptbahnhof. (Diese Gespräche rechne ich zu den besonderen und prägenden Erlebnissen meines Lebens.) Bei den meisten dieser Gespräche hat mir Künzli von Fällen berichtet, deren Behandlung ihm gerade wieder misslungen sei. So hat er mich richtiggehend trainiert, den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Therapieversager zu richten. Zweifellos tat er dies aus didaktischen Gründen, um mir eine realistische und selbstkritische ärztliche Haltung beizubringen. Trotzdem kommt mir dieses Thema vor wie sein persönliches Vermächtnis und ich dachte mir schon damals: „Er will mich mit der Nase auf dieses Problem stoßen, damit ich mithelfe, es anzugehen.” Zudem hat er mir gegenüber mehrfach ausdrücklich - auch brieflich - betont, wie wichtig es sei, dass er weiter forsche. Unsere Gespräche bildeten für mich den Ausgangspunkt und haben den Keim gelegt für meine Forschungsarbeit, deren Resultate ich u. a. in der vorliegenden Arbeit beschreibe.

03 Bekanntermaßen fährt Hahnemann an derselben Stelle fort und dies ist genauso wichtig wie das Vorangegangene: „Und dennoch war die Lehre selbst auf die unumstößlichsten Pfeiler der Wahrheit gestützt und wird es ewig sein.

04 Dabei bin ich von der - zugegebenermaßen äußerst unwahrscheinlichen - Arbeitshypothese ausgegangen: „Gesetzt den Fall, es sei nur eine einzige Arznei oder nur wenige Arzneien, welche viele meiner ungelösten Fälle lösen könnten, könnte es z. B. die Arznei XY sein?” Dass sich diese Arbeitshypothese - so unwahrscheinlich sie war - schließlich mit Staphisagria bestätigt hat, erscheint mir immer noch unfasslich. Jahrelang war allen meinen Versuchen mit den verschiedensten Arzneien keinerlei Erfolg beschieden. Von Zeit zu Zeit hatte ich jeweils eines von folgenden Heilmitteln an all denjenigen meiner ungelösten Fälle erprobt, bei denen ich Anhaltspunkte dafür zu erkennen glaubte, dass dieses Mittel indiziert sein könnte: Argentum nitricum, Arsen, Conium, Kalium carbonicum, Natrium sulfuricum, Pulsatilla, Rhus toxicodendron und Sulfur. Sämtliche dieser systematischen therapeutischen Versuche mußten, weil ergebnislos, wieder abgebrochen werden. Mitte Mai 2000 begann ich schließlich mit der systematischen Erprobung von Staphisagria und zog zwölf Monate später eine erste ermutigende Bilanz - wiedergegeben am Ende der vorliegenden Arbeit. Aber ich hatte noch viele Zweifel zu überwinden, weil ich mir immer wieder vorhielt: „Bin ich nicht eher einer Selbsttäuschung erlegen? Es kann doch nicht möglich sein, dass die Lösung so einfach ist!” Weil mir damals noch jede Erfahrung mit Staphisagria fehlte, habe ich diese Arznei in zahlreichen Fällen bei dem geringfügigsten Anlass wieder verlassen und oft erst viel später erkannt, dass zumeist doch Staphisagria indiziert war.

05 Das Bild der Arznei Staphisagria, wie ich es in den beiden ersten Teilen meines Erfahrungsberichtes [17], [18] entworfen habe, leitet sich aus drei Quellen her:

  • aus Fällen meiner Praxis, welche unter dieser Arznei sehr gut laufen,

  • aus Fällen von verpasstem Staphisagria meiner Praxis und

  • aus beobachteten Verdachtsfällen von Staphisagria, welche ich im Rahmen meiner psychotherapeutischen Fortbildungen miterlebt habe. Diese Verdachtsfälle hatten mir überhaupt erst die Augen für das Seelenbild von Staphisagria geöffnet

06 Meine rein klassisch-homöopathische Praxis habe ich im März 1987 eröffnet; mit der homöopathischen Behandlung von Patienten hatte ich jedoch bereits im Juli 1986 begonnen.

07 Viele dieser bewährten Rubriken finden sich in Künzlis „Repertorium Generale” [8] mit dem berühmten „Künzli-Punkt” gekennzeichnet.

08 Ich halte es für ein großes Verdienst Dario Spinedis, dass er mit zahlreichen Seminaren über den Ansatz Rajan Sankarans und über die Rolle des Gemütszustandes einen wichtigen Schritt getan hat, die „Künzli-Methode” durch neue Aspekte zu ergänzen. Unter Spinedis Einfluss habe ich mich Sankarans Denkansatz geöffnet, was Voraussetzung war, um den diagnostischen Zugang zu Staphisagria zu finden [11].

09 Ich will und kann überhaupt nicht ausschließen, dass künftig bessere wahlanzeigende Symptome für die Diagnostik von Staphisagria zur Verfügung stehen, als ich sie bis jetzt kenne. Bislang sind mir einfach nur die anderen Dinge - Gemütszustand, seelisch bedingte auffallende Verhaltensweisen, körperliches Aussehen und Pathologie - hilfreich gewesen und nicht die Symptome. Aber ich kann überhaupt nicht absehen, was die weitere Forschung und was andere Kollegen eventuell noch alles herausfinden werden. Vielleicht gibt es ja noch andere diagnostische Zugänge zu Staphisagria als denjenigen, der sich mir erschlossen hat. Deshalb forsche ich ja auch über die Symptome dieser Arznei [18: 33 ff.].

10 Es ist unbeschreiblich, welches Ausmaß innerer und äußerer Entspannung die Tatsache mit sich gebracht hat, daß mir auf einmal die Behandlung fast aller Fälle gelingt. Bestand bis Anfang 2004 ein Großteil meiner Praxis aus Problemfällen, habe ich dagegen seither kaum mehr als zwei bis vier aktuelle Problemfälle gleichzeitig und ich kann mich daher viel stärker der „Feineinstellung” der einzelnen Behandlungen widmen.

11 Mit diesen Forschungen folge ich einer Empfehlung Künzlis, der seine Schüler immer wieder aufgefordert hat, Statistiken über die Resultate der eigenen Behandlungsergebnisse zu erstellen.

12 Für endgültige zahlenmäßige Aussagen ist eine vierjährige Beobachtungszeit seit Entdeckung der häufigen Inzidenz von Staphisagria unter meinen Patienten noch zu kurz. Daher sind die hier vorgelegten zahlenmäßigen Angaben zunächst größenordnungsmäßig zu verstehen und werden unter dem Vorbehalt mitgeteilt, dass sie sich im Laufe weiterer Erfahrungen noch geringfügig ändern können. Es handelt sich um näherungsweise Angaben - dies soll der jeweilige Zusatz „etwa” ausdrücken - aus dem einfachen Grund, weil die diesen Angaben zugrunde liegenden Fälle gegenwärtig noch große Unterschiede in der Behandlungsdauer aufweisen. Trotz dieser Einschränkungen wage ich die Publikation dieser quantitativen Angaben,

  • um anderen homöopathischen Ärzten Anhaltspunkte zu geben und um eine kritische Überprüfung meiner Resultate anzuregen,

  • um definierte Ausgangswerte zu liefern, die es ermöglichen, konkrete Vergleiche zwischen verschiedenen homöopathischen Behandlern und verschiedenen Praxen anzustellen und vor allem,

  • weil die im folgenden geübte Kritik an Constantin Herings Werk „The Guiding Symptoms of Our Materia Medica” sich meiner Auffassung nach nur aufgrund einer klaren empirischen Datenbasis überzeugend führen lässt.

13 Ein Teil der etwa 2-4 % meiner Patienten, welche andere als eines dieser genannten sechs Heilmittel benötigen, läuft mit gutem Erfolg unter Nux vomica, Rhus toxicodendron und Thuja; ein anderer Teil dieser Fälle ist auch nach mehrjähriger Behandlung noch ungelöst.

14 Ich vermeide bewusst das Wort „geheilt”, weil ich insbesondere bei der Behandlung erwachsener Patienten den Eindruck habe, dass es eher nur gelingt, chronische Krankheiten mehr oder weniger weitgehend zurückzudrängen als sie endgültig auszuheilen.

15 Bei allen anderen homöopathischen Arzneien, die ich bislang überhaupt mit Erfolg als chronisches Heilmittel eingesetzt hatte, erwies sich spätestens nach einer kontinuierlichen Behandlung von 5-10 Jahren Dauer mit ausschließlich diesem einen Heilmittel, dass es sich nur um ein vorübergehend wirksames Simile gehandelt hatte.

16 In der Genetik werden die nächstfolgende Generation als „Filialgeneration 1” bzw. abgekürzt als „F 1” und die übernächste Generation als „Filialgeneration 2” bzw. als „F2” bezeichnet [2: 9].

17 Mit dieser Hypothese setze ich ein Fragezeichen hinter eine Passage von Künzlis Statement auf dem Liga-Kongress in Athen 1988 [12]: „Ein Mittel fürs ganze Leben? […] Das ist ein Ausnahmefall. […] Das kommt vor. Es ist wunderschön, aber es ist nicht immer der Fall. Es ist wie gesagt ein Ausnahmefall.” Ich halte es für denkbar, dass diese Aussage Künzlis möglicherweise zu relativieren ist. Denn bevor der diagnostische Zugang zu Staphisagria bekannt war, konnte man die betreffenden Patienten nur mit Simile-Arzneien behandeln und deren positive Wirkung war immer nach einer bestimmten Zeit wieder zu Ende, sodass jeweils eine neue Simile-Arznei verabreicht werden musste. Diese Situation hat sich geändert, seit Staphisagria erkannt und verschrieben werden kann.

18 Meiner Beobachtung nach ist die von Künzli geforderte Mindestverlaufsdauer von vier Jahren nicht immer ausreichend, um die Wirkung der verabreichten potenzierten Heilmittel eindeutig zu beurteilen. Seit meinem Vortrag auf dem Liga-Kongress in Budapest im Mai 2000 [16] nehme ich deshalb, wenn es um die Beurteilung der Wirkung einer potenzierten Arznei geht, als Standard eine Mindestbehandlungszeit von zehn Jahren. Denn ich habe bei meinen Forschungen bemerkt: Je länger die Behandlungsdauer eines chronischen Falles ist, desto leichter fällt es, die therapeutische Eignung der verabreichten Arzneien epikritisch zu beurteilen und desto eindeutiger sind die Resultate. Deshalb lege ich den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf Behandlungsverläufe von mindestens zehn Jahren und bilde mein Urteil aus der Perspektive der Resultate aus solchen Langzeitverläufen.

19 Eine schöne Auflistung derjenigen Arzneien, von denen in den „Guiding Symptoms” eine bestimmte Mindestzahl an „Heilungen” berichtet werden, findet sich bei Vermeulen [21: XI f.].

20 Künzli hatte sich jedes Mal, wenn er auf dieses Thema zu sprechen kam, auf eine entsprechende Forderung Bönninghausens bezogen. Die genaue Literaturstelle, wo Bönninghausen dies fordert, kenne ich jedoch noch nicht.

21 Die Schwierigkeit von Verläufen, die zeitlich zu kurz sind, um eine sicher wertbare Aussage zu machen, wird allerdings teilweise dadurch aufgewogen, dass sich zahlreiche Fälle beobachten ließen, in denen die Sensitivität auf Staphisagria offensichtlich ererbt ist: In einer Reihe von Familien benötigen jeweils ein oder mehrere Personen aus jeder von drei Generationen, der Großeltern-, der Eltern- („F1”[16]) und der Kinder- bzw. Enkelgeneration („F2”[16]), gemeinsam die Arznei Staphisagria. Diese Beobachtungen werte ich als indirekte Bestätigung meiner Mittelwahl.

22 Während elf Jahren, 1986-1997, habe ich folgende homöopathische Supervisionen regelmäßig besucht:

  • 5 Jahre bei Dr. Jost Künzli von Fimmelsberg in Zürich und

  • 11 Jahre bei Dr. Dario Spinedi in Zürich, Locarno und Orselina.

22 Während ebenfalls elf Jahren, 1996-2006, habe ich folgende psychotherapeutische Supervisionen regelmäßig besucht:

  • 3 Jahre bei Ivan Verny in Zürich,

  • 4 Jahre bei Bert Hellinger (an wechselnden Orten),

  • 7 Jahre bei Hunter Beaumont, Ph. D., in Penzberg/Oberbayern und

  • 10 Jahre bei Dr. Rüdiger Rogoll in Markdorf/Bodenseeregion.

22 Meine Befähigung zur Psychodiagnostik von Staphisagria verdanke ich vor allem der Erfahrung von mindestens 4 000-5 000 psychotherapeutischen Interventionen, die ich im Rahmen dieser Supervisionen miterlebt habe.

23 Eine gewisse mentale Prägung, auf diese körperlichen Merkmale zu achten, habe ich möglicherweise dadurch erfahren, dass ich als jugendlicher Hobby-Fotograf mehrere tausend Porträtfotos erstellt habe, und dass ich ebenfalls als Jugendlicher zusammen mit meinem Vater, der als Kinderradiologe über Störungen des kindlichen Knochenwachstums im Bereich der Schädelknochen wissenschaftlich gearbeitet hat [20], viele Diapositive von Röntgenaufnahmen des kindlichen Schädels angefertigt habe.

24 Ich gebrauche d. Begriff „allopathisch” synonym mit „schulmedizinisch” rein deskriptiv, ohne irgendeine Wertung damit zu verbinden. Dagegen vermeide ich bewusst den landläufig gebrauchten Begriff „homöopathische Arznei” und verwende den wissenschaftlich korrekten Begriff „potenzierte Arznei” - entsprechend der Auffassung Kents, der als „homöopathisches Heilmittel” dasjenige bezeichnet, welches „seine heilende Kraft am Patienten bewies, nachdem es der Simileregel gemäß verschrieben worden war” [6: 336].

25 Ohnehin nehmen viele biologische Prozesse einen exponentiellen Verlauf, z. B. ein unkontrolliertes Bakterienwachstum, das Bevölkerungswachstum etc.

26 Auf die Spur dieser Erkenntnis hat mich neben meiner bereits genannten psychotherapeutischen Fortbildung eine 18-jährige enge berufliche Zusammenarbeit mit einer erfahrenen Psychotherapeutin (Frau Birgitta Grießer, Eigeltingen/Bodenseeregion) geführt. Viele Patienten stehen gleichzeitig in unser beider Behandlung und wir beraten uns laufend über alle anstehenden Fragen, welche sich bei der Betreuung unserer gemeinsamen Patienten ergeben. Diese intensive Zusammenarbeit hat mir sehr geholfen, eine realistische Sicht, vergleichbar mit der eines unparteiischen Beobachters „von außen”, auf meine Arbeit und ihre Ergebnisse einzunehmen.

27 Auf einem ähnlichen Weg ist Hahnemann bei der Erarbeitung seiner Theorie der chronischen Krankheiten und ist auch Künzli bei seinen Forschungen vorgegangen: Beide betrieben ihre empirischen Forschungen anhand von Beobachtungen bei ihren eigenen Patienten. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass diese Forschungsarbeit nur unter zwei Voraussetzungen möglich war und ist: einem hohen Betreuungsaufwand gegenüber jedem einzelnen Patienten und einer äußerst detaillierten Verlaufsdokumentation. Dagegen lag der Schwerpunkt z. B. von Kents wissenschaftlicher Arbeit auf einem anderen Gebiet, nämlich bei u. a. auf der Sichtung und zweckmäßigen Anordnung riesiger Datenmengen in seinem Repertorium. Bei 10-20 000 Fällen pro Jahr, die Kent neben seiner wissenschaftlichen und Lehrtätigkeit zeitweise behandelt (oder nur supervidiert?) haben soll, kann er die Behandlungsverläufe dieser Fälle gar nicht im Detail verfolgt und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen haben.

28 Die Anregung zur selbstkritischen Analyse therapeutischer Fehlschläge verdanke ich nicht nur Künzli, sondern vor allem meinem schulmedizinischen Lehrer, dem Hämatologen Herbert Begemann (1917-1994) - siehe z. B. dessen sehr lesenswerte Dissertation [1], in meinen Augen ein Meisterstück epikritischer Analyse. Die Thematik der problematischen Seiten ärztlichen Handelns - sowohl im Bereich der Allopathie als auch im Bereich der Homöopathie - galt seit je mein wissenschaftliches Interesse und hat von meiner Dissertation angefangen fast alle meine Publikationen [13], [14], [15], [17], [19] bestimmt. Diese Arbeiten waren mir wichtige Vorstufen, die mir geholfen haben, den Blick zu schärfen, den ich benötigte, um das Phänomen des „verpassten Staphisagria” zu entdecken.

29 Diese Passage gebe ich bewusst im Originalwortlaut wieder, damit sich der Leser ein eigenständiges und authentisches Bild von der Entwicklung meiner Erkenntnisse machen kann.

30 Diese Beschreibung vom 16.5.01 hatte ich damals drei Arztkollegen zugesandt. Im Zeitraum 2001-2004 habe ich insgesamt neun homöopathische Kolleginnen und Kollegen aus fünf Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, Ungarn und USA) vorab über meine Erfahrungen mit Staphisagria informiert. Im Jahr 2005, als sich meine Ergebnisse konsolidiert hatten und ich mir meiner Sache langsam sicher geworden war, habe ich etwa 60 homöopathische Ärztinnen und Ärzte, vor allem Teilnehmer aus den ehemaligen Supervisionsgruppen Dr. Künzlis und Dr. Spinedis, mit zwei Rundschreiben (vom 7.6.05 und vom 19.11.05) über diejenigen Phänomene vorab in Kenntnis gesetzt, welche ich in dem hier vorgelegten dritten Teil meines Erfahrungsberichtes beschreibe. Bei dieser sukzessiven Erweiterung des Kreises von Kollegen, dem ich meine Erfahrungen mitgeteilt habe, war ich bemüht, einer doppelten Verantwortung gerecht zu werden: Einerseits Dinge nicht voreilig und in unausgereifter Form an die Öffentlichkeit zu bringen, andererseits Beobachtungen, die möglicherweise das Wohlergehen von Patienten anderer homöopathischer Ärzte betreffen, nicht unnötig lange für mich zu behalten. Zudem hoffe ich - dies gilt auch für die vorliegende Arbeit -, Kollegen dazu anzuregen, meine Befunde und Thesen in ihrer eigenen Praxis kritisch zu überprüfen. Das Interessanteste wären zweifellos, Publikationen von Fällen, die mindestens zehn Jahre lang erfolgreich mit ein- und derselben Arznei behandelt worden sind - und zwar mit Arzneien, welche nicht zu den von mir genannten sechs häufig indizierten Polychresten gehören.

31 In dieser Situation habe ich meinen verstorbenen Lehrer Dr. Künzli besonders vermisst. So wie ich ihn kannte, wäre er - da bin ich mir sicher - längst persönlich zu meiner Praxis angereist und hätte sich anhand des Studiums meiner Krankengeschichten ein eigenes Bild über die Stichhaltigkeit meiner Thesen gemacht.

32 „M” ist die Potenzstufe C 1 000 und „CM” die Potenzstufe C 100 000.

33 Synonym für Kränkung.

34 „milk leg” ist die Rubrik für die Beinvenenthrombose - sowohl für die oberflächliche als auch für die tiefe - und lautet vollständig: „extremities; milk leg; phlegmasia alba dolens”.

Dr. med. Christoph Thomas

Raiffeisenstr. 1

78465 Konstanz

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