PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(2): 115-116
DOI: 10.1055/s-2008-1067399
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychotherapie mit geistig Behinderten - eine Herausforderung

Bettina  Wilms, Wilhelm  Rotthaus
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Publication Date:
03 June 2008 (online)

Es war Wilhelm Rotthaus, der vor nun schon längerer Zeit den Vorschlag an die Herausgeber von PiD richtete, ein Heft zum Thema „Geistige Behinderung” zu gestalten. Diese Anregung wurde gern aufgenommen - allerdings frei nach dem „Verursacherprinzip” mit der Einladung zu einer Gastherausgeberschaft.

In der gemeinsamen Arbeit zu diesem Heft wurde uns einiges deutlich: Psychotherapie mit geistig behinderten Patienten ist kein exotisches Thema. In Deutschland leben etwa 5 Millionen Menschen, denen eine geistige Behinderung zugeschrieben wird. Von ihnen dürften mindestens 750 000 in ihrem Leben einmal aufgrund psychischer Auffälligkeiten, Störungen und Erkrankungen psychotherapeutisch behandlungsbedürftig sein. Wenn man dieser Zahl den Stellenwert der Psychotherapie mit geistig Behinderten im professionellen Diskurs gegenüberstellt, zeigt sich eine hohe Diskrepanz.

Wir haben uns gefragt, welche Gründe dies haben mag. Ist es die Paarung aus Unerfahrenheit und Hilflosigkeit, die auch die Professionellen befällt, wenn sie geistig behinderten Menschen begegnen? Oder weckt die Vorstellung, ein geistig Behinderter im Wartezimmer könnte andere verschrecken, die Sorge um ein Ausbleiben der „normalen” Patienten? Liegt es an der vorwiegend sprachlichen Orientierung der meisten Psychotherapeutinnen, die das Gefühl erweckt, Psychotherapie mit geistig Behinderten sei gar nicht möglich? Ist Psychotherapie mit geistig Behinderten also etwas ganz anderes als „normale” Psychotherapie? Welche Besonderheiten zeichnet die Psychotherapie mit geistig behinderten Menschen überhaupt aus?

Wenn Sie dies Heft nun in Händen halten, werden Sie schon beim Blick ins Inhaltsverzeichnis vergeblich nach verfahrensspezifischen Beiträgen suchen. Stattdessen finden Sie das, wofür PiD steht: einen Dialog psychotherapeutischer Sichtweisen und methodischer Zugangswege. Die Realität der Praxis, die uns begegnete, führte uns dazu, die „Berichte” aus den unterschiedlichen Therapieschulen zugunsten „großer Themen” zu verlassen, und bot uns den willkommenen Anlass, themenorientierte Sichtweisen mit der Integration von Vorgehensweisen unterschiedlicher Therapieverfahren vorzustellen.

Dies geschieht in einem gesundheitspolitischen Klima des „störungsspezifischer - schneller - effizienter” und mit erheblichen Verführungen zu sofortiger Diagnosestellung, im Design randomisierter Studien, überprüfter Kurzzeittherapien, rascher Verordnung möglichst sofort wirkender Psychopharmaka und dem, was in psychiatrischen Krankenhäusern unter den Begriffen von Fallzahlsteigerung und sinkenden Verweildauern verstanden wird. So weit … in aller Regel eben nicht gut, sondern dysfunktional!

Und damit sind wir bei der Frage, ob die Psychotherapie mit geistig behinderten Menschen nicht nur eine ethische Forderung (Darf man einem Teil der Menschheit diese Chance auf mehr Wohlbefinden vorenthalten?) oder eine willkommene Marktlücke für PsychotherapeutInnen ist, sondern ob sie sogar für alle psychotherapeutisch Tätigen als Anregung und Anstoß zu kritischer Selbstreflexion dienen kann. Dieser Aspekt trat uns während des Interviews mit Anton Dosen sehr deutlich vor Augen: Gerade die Psychotherapie mit geistig behinderten Menschen ist eben nicht besser, wenn die Psychotherapeutin schneller diagnostiziert, die Beschwerden rascher bestimmten singulären Verfahren zuweist und möglichst alle umgebenden „Störfaktoren”, die sonst noch im Leben von Betroffenen bestehen könnten, ausblendet. Und sie wird schon gar nicht dadurch besser, dass professionelle Helfer ausschließlich mit Kindern und Jugendlichen oder mit Erwachsenen arbeiten, statt dem ganzen Menschen in seinen jeweilig aktuellen Entwicklungsständen in den unterschiedlichen Bereichen der Person und mit seinen vielfältigen, möglicherweise auch - wie bei geistig Behinderten häufig - verwirrenden und widersprüchlichen personellen Bezügen zu begegnen. Auch in anderen Aspekten fanden wir, die Herausgeber, wertvolle Anregungen für alle psychotherapeutisch Tätigen. Vielleicht, liebe Leserinnen und Leser, stoßen Sie ja auch auf derartige Fundstellen.

Dass wir es mit einer großen, noch weitgehend unvollendeten Aufgabe zu tun haben, wenn wir über die psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung nachdenken, dürfte in allen Beiträgen dieses Heftes deutlich werden. Auch hier zeigen die dargestellten Lösungsideen viele grundsätzliche Anregungen - nicht nur bei der Adaptation bekannter psychotherapeutischer Methoden an die Bedürfnisse geistig Behinderter: ein Prozess, der Lust auf Weiterentwicklungen weckt. Besonders eindrücklich war für uns das Spannungsfeld zwischen dem Einbezug des Umfeldes einerseits und der Wahrung und dem Respekt gegenüber der Schweigepflicht andererseits, die auch für geistig behinderte Menschen wesentlich ist - und, wie Tobias Buchner in seinen Interviews erfuhr, von den Betroffenen keineswegs selbstverständlich erwartet wird.

Psychotherapeutische Zugangswege für Menschen mit geistiger Behinderung erfordern andere Lösungsmuster als die, die wir sonst nahezu selbstverständlich aktivieren und deshalb, liebe Leser, war es für uns eine Herausforderung, dieses Heft zu gestalten, und ist es möglicherweise für Sie eine Herausforderung, sich schon beim Blättern in diesem Heft vielleicht das eine oder andere Mal zu fragen, wann Sie zuletzt einem Menschen mit einer geistigen Behinderung eine Psychotherapie empfohlen oder sie selbst durchgeführt haben - oder ob Sie doch den kleinen Mann im Ohr hörten, der sagte, dass das sowieso kein Gutachter positiv entscheidet, dass Sie dafür nicht zuständig sind oder dass es dafür doch spezielle Einrichtungen gibt (wo, fällt Ihnen nur gerade eben nicht ein …). Aber keine Sorge. Was jetzt wie ein erhobener Zeigefinger klingen mag, ist uns selbst auch nicht fremd: So mussten wir die Frage, wie Gutachter mit Psychotherapieanträgen für einen geistig behinderten Menschen umgehen, erst selbst einmal durch eine kleine Umfrage klären. Und so sehr viele Personen, die Erfahrungen in der Psychotherapie mit geistig behinderten Menschen haben und bereit sind, als AutorInnen darüber zu schreiben, fanden wir auch nicht.

Ihnen und uns wünschen wir, dass dieses Heft Ihr Interesse weckt und der eine oder andere Beitrag die Reflexion Ihrer eigenen Arbeit bereichert. Wenn es zudem noch dazu beitragen könnte, auf Anfragen nach Psychotherapie mit einem als geistig behindert diagnostizierten Patienten nicht sofort ein „Geht nicht” oder „Bringt nichts” zu denken, sondern konkrete Fragen nach dem Lebensumfeld des oder der Betroffenen und nach dem Auftrag an eine Psychotherapie zu stellen - halt so, wie es bei Anfragen „normaler” Menschen auch geschieht -, wäre der Zweck dieses Heftes mehr als erfüllt.

Liebe Leserinnen und Leser,

seit 2007 hatten Sie die Möglichkeit, mit der PiD Fortbildungspunkte (CPE) zu sammeln. Zu einigen ausgewählten Beiträgen konnten Sie jeweils 10 Fragen beantworten und die Antworten bei uns einsenden.

Inzwischen haben wir festgestellt, dass nur wenige Abonnenten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. In Gesprächen mit unseren Lesern haben wir erfahren, dass sie über Fortbildungsveranstaltungen so viele Punkte erzielen, dass der Punkteerwerb über die PiD nicht erforderlich ist.

In Abwägung von Aufwand und Nutzen haben Herausgeber und Verlag deshalb beschlossen, das CPE-Verfahren in der PiD mit diesem Heft wieder einzustellen.

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Korrespondenzadresse:

Dr. med. Wilhelm Rotthaus

Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Commerstraße 1

50126 Bergheim bei Köln

Email: trapmann-rotthaus@t-online.de

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