PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(2): 193-194
DOI: 10.1055/s-2008-1067400
Resümee

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Jetzt erst recht

Wilhelm  Rotthaus, Bettina  Wilms
Further Information

Publication History

Publication Date:
03 June 2008 (online)

Geistig behinderte Menschen haben - wie alle anderen auch - die Möglichkeit, psychische Störungen und Krankheiten zu entwickeln, und sie tun dies häufiger als die sog. normal intelligenten Menschen. Vor allem ihre in unserer kognitiv orientierten Welt erschwerten Lebensbedingungen und die immer noch ausgeprägte Diskriminierung, die sie erfahren, führen zu einer drei- bis viermal höheren Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten. Allerdings werden diese psychischen Störungen oft nicht als solche wahrgenommen, weil das auffällige Verhalten der geistigen Behinderung zugeschrieben wird, was man mit dem schönen Begriff des diagnostic overshadowing kennzeichnet.

Die Tatsache, dass geistige Behinderung keine Erkrankung ist, dass psychische Erkrankungen aber Teil des Lebens von geistig Behinderten sein können, wurde über lange Zeit in dieser Deutlichkeit nicht wahrgenommen. Dies ebnete den Weg für viele Enttäuschungen von Angehörigen geistig Behinderter, die sich zu der Hoffnung verlockt sahen, durch heilpädagogische Maßnahmen und Psychotherapie könne ihr geistig behindertes Familienmitglied zu einem anderen Menschen werden. Erst die klare Trennung von mentaler Retardierung und psychischer Störung machte deutlich, dass Heilpädagogik den geistig behinderten Menschen darin unterstützt, seine Entwicklungschancen möglichst gut zu nutzen, seinen Lebensstil zu entwickeln und seine Persönlichkeit zu entfalten, und Psychotherapie - wenn man beides denn trennen will - dazu dient, Störungen und Krankheiten zu behandeln und dem geistig behinderten Menschen ein Wohlbefinden zu ermöglichen, wobei beide Ansätze immer zugleich die Zufriedenheit seiner Angehörigen, seiner Betreuer, seiner Pfleger als wichtiges Ziel ansehen.

Diese Erkenntnis führte in Deutschland u. a. zum „Umzug” der geistig behinderten Menschen aus der Psychiatrie in spezielle heilpädagogisch betreute Wohnformen, leider aber auch gleichzeitig - und das vor allem in der Erwachsenenpsychiatrie - zu einem „Ausschütten des Kindes mit dem Bade”, nämlich der Entwicklung, dass sich viele psychiatrische Kliniken nun auf einmal für geistig behinderte Menschen gar nicht mehr zuständig fühlten und fühlen, eben auch nicht mehr (oder nur in Notfällen) für die psychischen Störungen und Erkrankungen dieser Menschen.

Die skizzierte Entwicklung ist mit ein Grund für die Tatsache, dass das Thema dieses Heftes, die Psychotherapie geistig Behinderter, immer noch ein Schattendasein fristet. Umso überraschender, dass sich einige Grundüberzeugungen in allen Beiträgen dieses Heftes wiederfinden:

Psychotherapie für psychisch gestörte oder kranke geistig Behinderte ist ein wichtiges Angebot, von dem sie - wie alle anderen Menschen - wesentlich profitieren. Eine ausschließliche Orientierung an einem Psychotherapieverfahren ist wenig Erfolg versprechend. Vielmehr befürworten die Autorinnen und Autoren eine genaue Prüfung, welches psychotherapeutische Vorgehen bei welchem Patienten unter welchen Kontextbedingungen zum Erreichen welchen Therapieziels indiziert ist. Die jeweils eingesetzten Methoden müssen - und das gilt wiederum im Prinzip für alle Menschen, die psychotherapeutisch behandelt werden - an die jeweils individuellen Fähigkeiten des Patienten angepasst werden, was bei geistig behinderten Patienten die Berücksichtigung einiger genereller Aspekte erfordert. Unter diesen Voraussetzungen können auch komplexe Behandlungsmodule wie beispielsweise die DBT oder solche aus der interpersonellen Psychotherapie bei geistig behinderten Menschen eingesetzt werden. Schließlich besteht auch Einigkeit darin, dass es einen fließenden Übergang zwischen Heilpädagogik und Psychotherapie gibt und dass wichtige Erkenntnisse für beide gleichermaßen gelten.

Bemerkenswert ist, dass sich mehrere Autoren sehr entschieden für einen salutogenetischen Ansatz in der Arbeit mit geistig Behinderten aussprechen. Die Psychotherapie - und ebenso wird es für die Positive Verhaltensunterstützung ausgeführt - ziele nicht primär auf ein An- und Abtrainieren erwünschter oder unerwünschter Verhaltensweisen oder die Kompensation von Defiziten, sondern suche vielmehr die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Dosen formuliert: „Es geht um Gesundheit.”

Diesem Verständnis entspricht der entwicklungspsychologische Ansatz, den Anton Dosen in seiner Arbeit sehr konsequent verfolgt und der auch in den Beiträgen anderer Autorinnen und Autoren dieses Heftes immer wieder durchscheint. Dosen vertritt dazu die Ansicht, dass alles heilpädagogische und psychotherapeutische Handeln auf dem jeweiligen Niveau der emotionalen Entwicklung ansetzen und sich an den Grundbedürfnissen von Kindern dieser Entwicklungsebene orientieren müsse, da in diesem Bereich fast immer die stärksten Beeinträchtigungen vorlägen. Er kann sich in dieser Sichtweise unterstützt sehen durch eine 2007 von Sarimski veröffentlichte Literaturanalyse, die zu dem Ergebnis kam, dass emotionale und soziale Störungen, nicht aber schwere affektive und psychotische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen häufiger auftreten als bei nicht behinderten. Dem entspricht die Beobachtung mehrerer Autoren dieses Heftes, dass Veränderungen im Ausdrucksverhalten von behinderten Kindern leicht dazu führen, dass der aufeinander abgestimmte Dialog zwischen Kind und Eltern nicht gut gelingt, emotionale Ausdrucksformen weniger oder zumindest erst später verstanden werden und die Bindungsqualität beeinträchtigt wird - ein Prozess, der sich später in Kindergarten und Schule allzu leicht fortsetzt. Als weitere Risikofaktoren werden vor allem lebenslange Abhängigkeit von anderen Menschen, familiäre Belastungen sowie Stigmatisierung und Diskriminierung genannt.

Beim Lesen der Beiträge des Heftes haben wir, die Herausgeber, zuweilen den Eindruck gewonnnen, die psychotherapeutische Arbeit mit geistig Behinderten könne ein gutes Aufmerksamkeitstraining für alle Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sein. Im Kern scheint es darum zu gehen, bestimmte Grundbedingungen von Psychotherapie, die häufig als zentrale Wirkfaktoren erarbeitet wurden, lediglich bewusster und ausgeprägter als mit nicht Behinderten üblich zu realisieren. So beschreiben die geistig Behinderten selbst die entscheidende Bedeutung einer wertschätzenden, vertrauensvollen Beziehungsgestaltung, die im positiven Fall als frei von Zwängen und Erwartungshaltungen wahrgenommen wird. Das schließt einen sehr sorgfältigen Umgang mit der Schweigepflicht ein, die nachvollziehbarer Weise für Personen, die in vielen Bereichen ihres Lebens fremdbestimmt sind, ein hohes Gut darstellt und wesentlich zur Vertrauensbildung beiträgt. Auch die von den Betroffenen geschilderte große Bedeutung kreativer Gestaltungen des therapeutischen Settings als Spaziergänge oder mit spielerischen Elementen mag für Therapeutinnen und Therapeuten - und nicht nur solche, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten - als Anregung dienen.

Unverzichtbar ist die Arbeit mit den Familienangehörigen des geistig Behinderten und ggf. mit den Betreuerinnen und Betreuern. Für die Angehörigen ist die Akzeptanz der Behinderung und die narzisstische Kränkung durch sie ein lebenslanges Thema, das bei jedem normativen Entwicklungsschritt ihres behinderten Familienmitglieds erneut schmerzlich erfahren wird. In der Pflege und Fürsorge für ihr behindertes Familienmitglied werden sie - nicht selten unter erzwungener Vernachlässigung der entsprechenden Zuwendung zu dessen Geschwistern - zu betroffenen Experten, Menschen, die als oftmals ungewöhnlich Fachkundige eine Begegnung mit dem professionellen Fachkundigen auf gleicher Augenhöhe erwarten. Zugleich aber sind sie in das Beziehungsgeschehen so tief involviert, dass sie eine empathische Unterstützung benötigen, um auch einen distanzierten Blick auf das komplexe Geschehen rund um die Behinderung ihres Familienmitglieds riskieren zu können. Entsprechendes gilt nicht selten für Betreuerinnen und Betreuer, zumal die psychische Störung des geistig behinderten Menschen oft eine wichtige Funktion im Team übernimmt und deshalb in der Einzelarbeit mit dem Behinderten kaum erfolgreich angegangen werden kann.

Als ein weiterer genereller Aspekt, der in der Psychotherapie mit geistig Behinderten besondere Berücksichtigung erfahren muss, wird in den Beiträgen immer wieder die Arbeit an der Motivation der Patienten genannt. Die sorgfältige Erörterung von Anlass, Anliegen, Auftrag und Kontrakt ist deshalb so bedeutsam, weil geistig behinderte Patienten häufig fremdbestimmt sind und sich ihre eigenen Interessen oft keineswegs mit denen der Betreuer, die sie in Therapie schicken, decken. Das aufmerksame Erarbeiten ihrer persönlichen Therapieziele dient dann nicht nur dem Aufbau und Erhalt ihrer Motivation, sondern vermittelt zugleich Wertschätzung und Achtung, die gerade die Behinderten - ähnlich wie Kinder und Jugendliche - besonders sensibel wahrnehmen.

Alle Autorinnen und Autoren sind sich darin einig, dass die Psychotherapie mit geistig Behinderten aufgrund der Langsamkeit der Prozesse Zeit erfordert - Zeit, die zum einen finanziert werden muss, die zum anderen aber auch von der Psychotherapeutin sehr viel Ausdauer, Geduld, Gelassenheit und Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit ihres Therapiepartners verlangt. Sie selbst übernimmt in der Regel eine vergleichsweise aktive und gestaltende Rolle, mit der sie gemeinsam mit dem geistig Behinderten Handlungsalternativen entwickelt und ihm zur Entscheidung anbietet. Die Behinderten selber schildern die positive Wirkung einer Ressourcen- und Lösungsorientierung, die ihnen nicht zuletzt dabei hilft, bessere Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln. Häufig ist zudem der Einsatz von nonverbalen Interventionen und Therapiemethoden erforderlich. In diesem Heft wird stellvertretend für die kreativen Therapiemethoden, die in der Arbeit mit geistig Behinderten hohe Bedeutung haben, - wie beispielsweise die Gestaltungstherapie, die Kunsttherapie und auch die Körpertherapie - die Musiktherapie (siehe auch die im Internet abzurufenden Klangbeispiele!) mit geistig Behinderten vorgestellt.

Die Versorgungslage wird allgemein als unzureichend beklagt. Insbesondere ambulante Psychotherapie ist in vielen Regionen Deutschlands nicht oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen zu finden. Dabei gaben bei einer kleinen Umfrage der Herausgeber Gutachter übereinstimmend an, dass nur sehr wenige Anträge auf Psychotherapie mit geistig Behinderten eingereicht würden und man sich bei schlüssiger Begründung bislang in keinem Fall ablehnend gezeigt habe. Es fehlen ganz offensichtlich Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die in dieser Arbeit genügend Erfahrung haben. Dies hängt wiederum mit einem unzureichenden stationären psychotherapeutischen Angebot in den psychiatrischen Versorgungskliniken und noch mehr in den universitären Kliniken zusammen. Häufig wird dann Psychopharmakotherapie als Lückenbüßer eingesetzt. Wie sehr die Psychotherapie mit geistig Behinderten noch einen Stiefkindcharakter hat, zeigt sich nicht zuletzt - wenn man von einigen qualitativen Einzelfallstudien absieht - an dem (fast) vollständigen Fehlen von Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren und Methoden in diesem Bereich.

Literatur

  • 1 Sarimski K. Störungen bei behinderten Kindern und Jugendlichen - Übersicht und Schlussfolgerungen für die Psychodiagnostik.  Z Kinder Jugendpsych Psychoth. 2007;  35 (1) 19-31

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Wilhelm Rotthaus

Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Commerstraße 1

50126 Bergheim bei Köln

Email: trapmann-rotthaus@t-online.de

    >