PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(2): 200-201
DOI: 10.1055/s-2008-1067405
Im Dialog

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Psychotherapie in China?

Qijia  Shi im Gespräch mit Wolfgang  Senf
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Publication Date:
03 June 2008 (online)

China steht in der Kritik. Es wird die Einhaltung der Menschenrechte eingeklagt, aus unserer Sicht zu Recht. Übersehen wird dabei, was sich in dem vergangenen Jahrzehnt in der chinesischen Gesellschaft an ökonomischen, kulturellen, sozialen und auch politischen Veränderungen ergeben hat, die dem Einzelnen in China eine wesentlich größere Freiheit und persönliche Spielräume geben. Bei unseren Bewertungen ist auch zu bedenken, dass sich die chinesische Kultur in ihren Wertsetzungen erheblich von unserer mitteleuropäischen Kultur unterscheidet.

In PiD 4/2004 hatten wir über die Psychotherapieausbildung in China durch das Projekt Deutsch-Chinesische Akademie für Psychotherapie berichtet. Jetzt hatten wir Gelegenheit zu einem Gespräch mit Professor Dr. Qijia Shi, Leiter des Wuhan Mental Research Institut, affiliated to Tongji Medical College, Huazhong University of Science and Technology. Seine damit verbundene Klinik ist in der Struktur und Arbeitsweise an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Rheinische Kliniken am Universitätsklinikum Essen orientiert. Beide Kliniken pflegen einen sehr engen wissenschaftlichen und klinischen Austausch. Aus dieser Kooperation ist das erste chinesische Standard-Lehrbuch für Psychotherapie entstanden, inspiriert von der Praxis der Psychotherapie von Wolfgang Senf und Michael Broda. Geplant ist eine chinesische Psychotherapie-Zeitschrift, die sich an dem Konzept von PiD orientiert.

In China hat sich Psychotherapie inzwischen auf einem auch aus unserer Sicht hohen Niveau entwickelt. Diese Entwicklung ist durch zwei Kongresse markiert: der 1. Internationale Kongress für Psychotherapie „Dialog zwischen Ost und West” im August 2001 in Kunming und der 2. Chinesisch-Deutsche Kongress für Psychotherapie „Changing societies - changing people. Psychotherapeutic answers” im Mai 2007 in Shanghai. Im Oktober 2008 wird ein weiterer internationaler Psychotherapie-Kongress in Beijing stattfinden (www.wcp2008.org.)

PiD: Qijia, spielt die Psychotherapie bei den Veränderungsprozessen in China überhaupt eine Rolle?

Qijia Shi: Die Psychotherapie spielt eine wichtige Rolle. Du hast selbst bei der offiziellen Eröffnung unserer Klinik in Wuhan gehört, wie von politischer Seite durch den Wuhan Government Secretary Zhou Yuan ausdrücklich betont wurde, dass auffälliges Verhalten eben nicht alleine als kriminell, sondern als Ausdruck von Krankheit betrachtet und deshalb behandelt werden muss. Das kennzeichnet die Bedeutung der Psychotherapie in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung in China.

Wie ist die Psychotherapie in China organisiert?

Seit Ende 2006 hat sich ein staatlich anerkanntes System für die Approbation von Psychotherapeuten und Supervisoren unter dem Dach der Chinese Association for Psychology entwickelt. Berechtigt für die psychotherapeutische Ausbildung sind Mediziner, Psychologen, Pädagogen, Soziologen. Sie sind entweder in der psychosozialen Beratung oder in der Psychotherapie tätig oder vertreten die Psychotherapie in der universitären Lehre für Psychologie. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Approbation ist die Teilnahme an der Ausbildung der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie oder an der Psychotraumatologie-Ausbildung der Beijing-Universität. Für die psychotherapeutische Ausbildung von Medizinern, vor allem von Psychiatern, aber auch aus anderen Fachgebieten wie Innere Medizin, Pädiatrie, Gynäkologie, Onkologie etc. ist die Chinese Mental Health Association zuständig im Rahmen der Association for Counselling and Psychotherapy.

Zudem existiert seit 2000 eine dreijährige Ausbildung in Psychotraumatologie an der Beijing-Universität, seit 2003 ein dreijähriges psychoanalytisches Trainingsprojekt zur Förderung der therapeutischen Beziehung zwischen Psychiatern und Patienten in dem Beijing-Anding-Hospital. Im Oktober 2006 wurde das Wuhan Hospital for Psychotherapy, Wuhan Mental Health Center, Affiliated to Tongji Medical College, Huazhong University of Science and Technology unter meiner Leitung gegründet, das ja an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Essen orientiert ist. Also, es ist sehr viel passiert in den letzten Jahren.

Wer übt in China Psychotherapie aus?

Psychotherapie wird in China von einer sehr gut in den verschiedenen psychotherapeutischen Methoden und Techniken ausgebildeten Gruppe von chinesischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten selbst verantwortet. Psychotherapie zur Behandlung von Krankheit ist wie in Deutschland dafür ausgebildeten Ärzten und Psychologen vorbehalten. Die wichtigsten und seit 2002 offiziell anerkannten Ausbildungszentren für ärztliche Psychotherapeuten stehen unter Regie des chinesischen Gesundheitsministeriums. Es sind die Zentren an der Beijing University affiliated Mental Health Center, am Shanghai Mental Health Center and Wuhan Tongji University Medical College, die später durch Ausbildungszentren in Chendu und Changsha ergänzt wurden. Für die psychologische Psychotherapie wurden von dem Erziehungsministerium einige Universitäten anerkannt, wie z. B. die Beijing University und die Shanghai Fudan University usw.

Die Arbeitsämter führen seit 2002 Ausbildungsgänge für eine niederschwellige psychosoziale Beratungstätigkeit durch mit allerdings sehr kurzen Ausbildungen. Das ist eine Antwort auf die wachsenden Probleme durch Arbeitslosigkeit und wirft ein Licht auf die in China anwachsenden psychosozialen Probleme, welche die Regierung veranlasst haben, auch durch eine Förderung der psychologischen Beratung und Psychotherapie Abhilfen zu schaffen.

Dann spielt die professionelle Beratung in China auch eine Rolle?

Ja, das spielt eine sehr große Rolle. Unter dem Dach der Association for Counselling and Clinical Psychology liegt ein Schwerpunkt der Ausbildung auf der psychologischen Beratung (Counselling) sowie auf psychologischer Testuntersuchung. Dabei werden die Gesprächstherapie nach Rogers und die psychologische Beratung in Gruppen mehr und mehr zur Grundlage mit einem erkennbaren Wandel von einer theoretischen Ausrichtung hin zu einer professionellen Beratungspraxis. Ein wichtiges Resultat für unseren Alltag ist dabei die Abänderung der früher geübten Praxis, sog. „auffällige” Studenten über die Autorität eines sog. politischen Beratungsbüros für Studenten zu disziplinieren. Demgegenüber wird den Studenten jetzt an allen Universitäten professionelle psychologische Beratung im Rahmen psychosozialer Beratungsstellen für Studenten angeboten.

Bedeutet das, dass das Primat politischer Schulung als Antwort auf psychosoziale Probleme der wachsenden Erkenntnis weicht, dass psychosoziale Hilfen angemessen und notwendig sind?

Ja, das individuelle Scheitern wird nicht mehr alleine als moralisches und politisch verwerfliches Fehlverhalten betrachtet, sondern als Ausdruck von familiären oder individuellen Konflikten, die psychologisch behandelt werden können und müssen.

Dann findet in China ein enormer gesellschaftlicher Wertewandel statt? Welche Konsequenzen wird das allgemein haben?

Die chinesische Gesellschaft befindet sich in einem Wandlungsprozess, der zu enormen sozialen Spannungen führt. Die Beziehungen zwischen Nation, Kollektiv, Familie und Individuum verändern sich rasant. Traditionelle Lebensordnungen verändern sich oder lösen sich auf. Im klinischen Kontext zeigt sich das u. a. an Belastungen in den traditionellen familiären Beziehungen, was zu psychischen Konflikten und psychischer Krankheit führen kann. Gleichzeitig werden Konflikte in der Familie nicht mehr als „Skandal” betrachtet, der schamhaft verborgen werden muss, sondern sie dürfen geäußert werden, z. B. in einer Psychotherapie. Die Psychotherapie hat die Aufgabe, diesen Wandel zu begleiten.

Ist unsere Hilfe, etwa über die DCAP [1] , dabei förderlich?

Ja, sehr. Dieser Psychotherapietransfer nach China ist ein einzigartiges interkulturelles Unterfangen, da nicht nur die Vermittlung von Theorie im Vordergrund steht, sondern psychotherapeutische Praxis mit Supervision von chinesischen Behandlungsfällen gezeigt wird sowie auch Selbsterfahrung mit den chinesischen Teilnehmern stattfindet. Wir hoffen, dass sich trotz der allgemeinen politischen Spannungen dieser so wichtige Austausch weiter intensivieren wird. Im Sommer wird ja auch eine sehr hochrangige Delegation auf Einladung der DCAP nach Deutschland kommen, um sich über Euer Psychotherapie-System zu informieren. Es wird dann bei uns zu gesetzlichen Regelungen der Psychotherapie kommen.

Wir danken für das Gespräch.

1 Deutsch-Chinesische Akademie für Psychotherapie.

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