Z Orthop Unfall 2024; 162(01): 9-11
DOI: 10.1055/a-2230-8942
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Ambulantisieren hat großes Potenzial – mit veränderten Versorgungs- und Vergütungskonzepten

Interview mit Prof. Dr. Boris Augurzky und Dr. Michaela Lemm
Matthias Manych

Interview mit Prof. Dr. Boris Augurzky und Dr. Michaela Lemm

Zur Person

Prof. Dr. Boris Augurzky

ist Geschäftsführer der Health Care Business GmbH (hcb), Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ am RWI Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Münch

E-Mail: boris.augurzky@hcb-institute.de

Dr. Michaela Lemm

ist Geschäftsführerin der Health Care Business GmbH (hcb),

Herr Prof. Augurzky, Frau Dr. Lemm, was sind, neben erfüllten Patienten*innen-Bedürfnissen wie Wohnortnähe, die erwünschten Effekte des Ambulantisierens?

Augurzky: Bei jeder Behandlung muss man sich fragen, was an Ressourcen nötig ist, um eine gute Qualität zu erzielen. Eine ambulante Behandlung erfordert meist einen geringeren Ressourceneinsatz als eine stationäre. Daher ist sie – bei gleicher erzielbarer Qualität – der stationären vorzuziehen. Die Vorgabe zum sparsamen Ressourceneinsatz wird jedoch auch deswegen noch wichtiger, weil die Ressource „Personal“ immer knapper wird. Es geht nicht so sehr um das Geld, sondern vielmehr darum, ob wir künftig noch genügend Fachkräfte haben werden, um alle Patientenbedarfe in den bisherigen Strukturen erfüllen zu können. Um Rationierung der Bedarfe zu vermeiden, müssen wir also sehr sparsam mit dem Einsatz der noch verfügbaren Fachkräfte umgehen. Lemm: Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass aus Sicht der Patienten stationäre Aufenthalte auf das medizinisch Notwendige beschränkt sein sollten. Nosokomiale Risiken sind vielleicht nicht besonders hoch, sie sollten dennoch weitestgehend vermieden oder reduziert werden.

Wie schätzen Sie das Potenzial in Deutschland ein, unnötig stationär erbrachte Leistungen ambulant zu erbringen?

Augurzky: Ich gehe von einem Potenzial von rund 20% aus. Im internationalen Vergleich haben wir in Deutschland auch nach „Corona“ die höchste stationäre Fallzahl je Einwohner. Beispielsweise liegt sie in Dänemark um rund 40% niedriger als in Deutschland. Aber auch im innerdeutschen Vergleich sieht man große regionale Unterschiede, die auf ein relevantes ambulantes Potenzial schließen lassen. Und nicht zuletzt hat das umfangreiche IGES-Gutachten aus dem Jahr 2021 ein ähnlich hohes Potenzial aufgezeigt.

Wie ist die Situation bei Orthopädie und Unfallchirurgie?

Augurzky: Auch hier gibt es ein ambulantes Potenzial sowie ein Potenzial zur Reduktion der Verweildauer auf Station. Eine aktuelle Studie hat die Versorgungspfade für Knie- und Hüft-TEP bei Kaiser Permanente aus den USA (Unternehmen und Non-Profit-Organisation im Bereich Gesundheitsfürsorge und Krankenversicherung, Sitz: Oakland, Kalifornien, USA) mit den Pfaden von AOK-Versicherten in Deutschland verglichen. Während bei Kaiser Permanente die Patienten durchschnittlich 0,6 Tage stationär liegen, sind es bei uns 10 Tage. Dies geht vor allem darauf zurück, dass bei Kaiser Permanente mindestens 1 Monat vor der Operation zahlreiche präoperative Maßnahmen durchgeführt werden, wie z. B. Gewichtsreduktion, Trainings, Unterricht für Patienten und ihre Angehörigen. Lemm: Für den stationären Bereich wissen wir, dass im Jahr 2021 ca. 2 Mio. Fälle orthopädisch bzw. unfallchirurgisch in Fachabteilungen für Orthopädie und Unfallchirurgie, aber auch in Allgemeinchirurgien stationär behandelt wurden. Die Anzahl der Fälle, die in diesen Fachabteilungen orthopädisch bzw. unfallchirurgisch operiert wurden, liegt bei ca. 1,45 Mio. pro Jahr. Die Anzahl der Eingriffe liegt noch höher, weil ein Fall im Rahmen seiner Behandlung u. U. mehr als 1 operativen Eingriff erhält. Unter der Annahme eines Ambulantisierungspotenzials von ca. 20% ergeben sich entsprechend um die 300000 Eingriffe. Je nachdem, wie man die Leistungen zählt, kommt man zu abweichenden Angaben. In jedem Fall ist es ein Volumen, das Veränderungen in der Versorgungsstruktur erfordert.

Herr Prof. Augurzky, Sie stellten im September 2022 im Deutschen Ärzteblatt fest, dass das Potenzial in der Breite noch nicht realisiert wurde [1]. Was sind die Gründe?

Augurzky: Das Vergütungssystem ist ein zentraler Grund. Wenn ein Krankenhaus die Wahl hat, wird es sich eher für die stationäre Behandlung entscheiden, weil ihre Vergütung weitaus höher ist und sich damit die anfallenden Behandlungskosten im Krankenhaus besser decken lassen. Würde ein Krankenhaus dies nicht tun, kann ein Defizit entstehen, das das Haus mittelfristig in die Insolvenz treibt. Ein weiterer Grund ist, dass eine Komplettbehandlung entlang des Versorgungspfads wie bei Kaiser Permanente bei uns kaum möglich ist, weil wir strikte Sektorengrenzen haben. Lemm: Viele der zu ambulantisierenden Eingriffe lernen Mediziner zu Beginn ihrer Facharztausbildung im Rahmen ihrer stationären Tätigkeit. Der Aufwand für die Ausbildung ist aktuell in der ambulanten Vergütung aber gar nicht abgebildet. Auch baulich und organisatorisch sind die Rahmenbedingungen nicht so, dass sich die ambulanten Operationen gut in den Krankenhausbetrieb mit Notfällen integrieren lassen. Um das Potenzial tatsächlich zu heben, sind ergänzende Rahmenbedingungen zu schaffen, damit alleinlebende oder nach dem Eingriff mobil eingeschränkte Patienten gut versorgt sind, z. B. Übernachtungsangebote ohne pflegerische oder ärztliche Betreuung, Unterstützungsleistungen im häuslichen Umfeld oder telemedizinische Lösungen.

Wie kann die sektorengleiche Vergütung mit Hybrid-DRGs zu einem zukunftsfähigen Modell entwickelt werden?

Augurzky: Die vom Gesetzgeber geplante Vergütung der Hybrid-DRGs wird ein Mischpreis aus der stationären und der ambulanten Vergütung sein. Insofern wird damit das o. g. Vergütungsproblem angegangen. Ob es hilft, hängt davon ab, wie es Krankenhäusern gelingt, eine „ambulante Infrastruktur“ zu schaffen, die kostengünstiger sein muss als ihre stationäre Infrastruktur. Dazu gehört u. a. ein „ambulantes Mindset“ beim ambulant tätigen Fachpersonal. Im November 2023 hat die Rhön Stiftung dazu ein Gutachten veröffentlicht, das Krankenhäusern Vorschläge macht, wie sie dies erreichen können. Die Schaffung einer ambulanten Infrastruktur im oder am Krankenhaus wird aber ihre Zeit brauchen. Eine kluge Zwischenlösung könnte daher sein, einem Krankenhaus für Teilsegmente mit einem hohen ambulanten Potenzial ein gedeckeltes Budget zur Verfügung zu stellen, das sich am Anfang an der stationären Vergütung orientiert, innerhalb dessen das Krankenhaus aber frei entscheiden kann, ob es eine Behandlung ambulant oder stationär durchführt. Mit der Zeit würde das Budget abgesenkt, sodass die ökonomischen Vorteile daraus mit der Versichertengemeinschaft geteilt werden.

Wie können relevante Einspareffekte entstehen?

Augurzky: Durch einen sparsameren Personaleinsatz und dadurch, dass weniger Bettenkapazitäten vorgehalten werden müssen, die Kapital binden. Lemm: Wir müssen aber das bereits angesprochene Ausbildungsthema im Blick behalten. Der ärztliche Personaleinsatz ist zwar geringer, wenn jemand mit viel Erfahrung den Eingriff durchführt und dabei auch keinen weiteren Arzt benötigt. Der Nachwuchs muss dies aber auch gut lernen können. Fachgesellschaften sind besorgt, ob die Ausbildung des Nachwuchses bei einem steigenden Grad an Ambulantisierung ausreichend berücksichtigt ist.

Wie beurteilen Sie die Risikoseite des Ambulantisierens?

Augurzky: Ökonomische Risiken für Kliniken entstehen, wenn die Vergütung für die ambulante Behandlung die Kosten nicht decken kann – entweder weil die Klinik noch keine entsprechend kostengünstigere ambulante Infrastruktur geschaffen hat oder weil der Schweregrad der im Krankenhaus ambulant behandelten Patienten im Durchschnitt höher liegt als derjenige ambulant Behandelter außerhalb des Krankenhauses („Selektionseffekt“). Letzteres ließe sich durch eine nach Schweregrad differenzierte ambulante Vergütung lösen. Lemm: Kritisch sind aus Patientensicht vor allem die Eingriffe zu sehen, bei denen ein signifikantes Risiko für Nachblutungen besteht wie bei Mandelentfernungen oder Schilddrüsen-OPs. Hier muss die Patientensicherheit gewährleistet sein. Wenn es dem Gesetzgeber außerdem nicht gelingt, Vergütungsmodelle so zu gestalten, dass die Leistung kostendeckend erbracht werden kann, steuern wir auf Versorgungslücken zu.

Was können Kliniken unternehmen, um Risiken zu minimieren und Potenziale auszuschöpfen?

Augurzky: Hier verweise ich auf das o. g. Gutachten der Rhön Stiftung, das folgende Maßnahmen vorschlägt: 1. die Einführung eines Ambulanzcontrollings und -reportings, 2. die Entwicklung eines strategisch orientierten ambulanten Portfolios, 3. Investitionen in passende Raum- und Funktionskonzepte, 4. angepasste Personaleinsatzkonzepte, spezialisiertes Personal, ambulantes „Mindset“, 5. Prozessstandardisierung und Schnittstellenmanagement und schließlich 6. eine digitale Prozessunterstützung. Lemm: Zudem wären größere Ambulanzzentren hilfreich, die sowohl von Niedergelassenen als auch Krankenhäusern betrieben werden könnten. Für Krankenhäuser gibt es hier aktuell noch regulatorische Hindernisse, weil sie ambulante Operationen i. d. R. nur an den Standorten erbringen dürfen, an dem es auch die entsprechende Hauptfachabteilung gibt. Das schränkt das Erreichen von Synergien stark ein.

Knapp 50% der niedergelassenen Ärzt*innen stehen gemäß einer aktuellen Umfrage dem Ambulantisieren skeptisch gegenüber [2]. Sie befürchten u. a. Mehraufwand und kürzere Nachbeobachtungszeiten mit entsprechenden Patientenrisiken. Sind diese Bedenken berechtigt und wie kann den Aspekten begegnet werden?

Augurzky: Bei manchen Patienten sind diese Bedenken berechtigt. Daher ist es wichtig, dass Krankenhäuser und größere ambulante Einrichtungen, wie z. B. MVZ und Praxiskliniken, sich um die komplexeren Fälle kümmern können, die eine aufwendigere Infrastruktur erfordern, die eine Praxis i. d. R. nicht anbieten kann. Wichtig ist dann, dass sich die Vergütung am Schweregrad des Falls orientiert. Lemm: Niedergelassene könnten die Leistungen zumindest unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht „on top“ erbringen. Sie äußern sich teilweise kritisch, weil auch sie ihre Ressourcen nicht unbedingt für die richtigen Patienten einsetzen können. Der ungesteuerte Patientenzugang hat in dieser Hinsicht Nachteile. Ihre Skepsis könnte sich ggf. auch darauf beziehen, dass die Vergütung sich nicht fair auf die verschiedenen Budgets auswirkt.

Kliniken sollen in einem vom IGES-Institut vorgeschlagenen Prüfverfahren begründen können, in welchen Fällen Patienten doch stationär behandelt werden. Wie hoch könnte im Rahmen des erweiterten AOP-Katalogs der Anteil dieser fallindividuell begründeten stationären Behandlungen ausfallen?

Lemm: Das hängt sehr stark von den dann anerkannten Gründen für eine stationäre Behandlung ab. Falls bspw. der Umstand, dass man alleinstehend ist, für eine stationäre Behandlungsbegründung ausreichend wäre, stößt die Ambulantisierung schnell an Grenzen. Für diese Patientengruppe müsste dann eine andere Betreuungsform als bisher möglich und refinanzierbar sein. Zwischen gar keiner Betreuung einerseits und vollstationärer Betreuung andererseits braucht es passende andere Angebote.

Die Fragen stellte Matthias Manych.



Publication History

Article published online:
13 February 2024

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