Psychiatr Prax 2009; 36(1): 46
DOI: 10.1055/s-0028-1121943
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Sprachkritik
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Neo-Anglizismen in psychiatrischen Fachzeitschriften

Zeitgeist, Notwendigkeit oder Poverty of Speech?
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Publication Date:
15 January 2009 (online)

 

Neo-Anglizismen sind diejenigen, die den Leser noch aufmerken lassen, für Irritation sorgen, nicht die schon gewohnten, die bereits keinerlei Unbehagen mehr verursachen. Stets bleibt bei der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl: Ist der Autor wirklich sprachlich so unbeholfen oder will er dem Leser (respektive Hörer, bei Vorträgen) das Gefühl vermitteln, dass er sich nur ausnahmsweise damit befasst, seine Gedanken auf Deutsch wiederzugeben, während seine eigentliche Heimat die internationalen Journals mit entsprechendem Impact sind? Da gibt es die zahlreichen Direkt-Übernahmen englischer Fachbegriffe, die vertraut und einigermaßen unentbehrlich scheinen, weil jede Übersetzung holprig klingen würde, so z.B. die Flash-Backs oder das Craving. Auch Recovery hat sich jüngst in der Schizophrenieliteratur etabliert, weil es tatsächlich weder bedeutungsgleich mit "Heilung" oder "Wiedergenesung" oder was man auch immer wählen wollte, ist. Auch was die Methodenlehre anbetrifft, haben wir zur statistischen Power einer Studie kaum mehr eine gut kommunikable sprachliche Alternative. Sehr wohl dagegen zum sample, das doch nichts weiter als eine Stichprobe ist.

Werden wir uns aber auch an jene sprachlich unsauberen und stets gestelzt klingenden Neo-Anglizismen gewöhnen, die immer häufiger in Vorträgen und Fachzeitschriften auftauchen? Da wäre z.B. der Vorgang, eine Fragestellung zu adressieren - offensichtlich wörtlich übersetzt von "to address" mit dem Sinn, eine Fragestellung "anzusprechen". Adressieren bedeutet im Deutschen aber eben immer noch, etwas "mit einer Adresse zu versehen". Auch die "References" sind im Deutschen eben keine Referenzen, sondern die Literatur. Verbreitet scheint auch die Präposition "in" bei Zeitangaben mit Jahreszahlen Einzug zu halten: "In 2007 wurden 300 Patienten behandelt...". Während man es im Englischen genau so formuliert, ist es im Deutschen noch immer falsch und deplatziert. Ein besonders feinsinniges Unwort findet sich in der ICD-10 im Kapitel 2 der psychischen Störungen: der sogenannte Kontrollwahn, offenbar ein erstrangiges Symptom der Schizophrenie. Auf Nachfrage vermögen Psychiater meistens nicht genau zu benennen, was ein "Kontrollwahn" eigentlich ist. Tatsächlich handelt es sich um eine falsche Rückübersetzung: der Fremdbeeinflussungswahn (klassische deutsche Psychopathologie) wird korrekt im Englischen mit "delusions of control" übersetzt, zumal "to control" eben auch "steuern" bedeutet. Dass die - falsche - Rückübersetzung als "Kontrollwahn" jetzt zum Standardinventar unserer Psychopathologie gehört, ist ebenso bemerkenswert wie bedauerlich. Die Tatsache, dass die ICD-10 auch noch eine amerikanische Schwester hat, das DSM-IV, hat uns scheinbar auch ein bis dahin nicht bekanntes deutsches Adjektiv beschwert, nämlich "major" in Verbindung mit einer Krankheit, die in Vorträgen gerne als "majore Depression" bezeichnet wird. Besonders originell war die Bildung derartiger aus dem Englischen entlehnter Kunstwörter bei einem Referenten, der über Untersuchungen an gewalttätigen und nicht gewalttätigen Patienten berichtete und diese als violente oder nonviolente Patienten bezeichnete. Er redete freilich über so erhabene Dinge wie Genloci und wollte sich mit seiner gewählten Diktion offensichtlich auch von den profanen Niederungen des psychiatrischen Alltags distanzieren. Wenn wir uns erst einmal daran gewöhnt haben, könnte das Beispiel von der "majoren" Depression oder den "violenten" Patienten doch Schule machen: Würde es nicht gar als Ausweis eines besonderen Insidertums durchgehen, wenn man von auditorischen statt akustischen Halluzinationen redete, von Delusionen statt Wahnvorstellungen, von Gesundheitsautoritäten statt Gesundheitsbehörden, von Objektiv statt Zweck einer Arbeit, von Figur statt Abbildung, vielleicht sogar von Drogen statt Medikamenten? Satirische Assoziationen lassen sich jedenfalls nur schwer unterdrücken. Deshalb noch einmal etwas Versöhnliches zum Abschluss: Die Kurve mit der Evidence-based Medicine haben wir ganz gut hinbekommen. Evidenzbasierte Medizin verwendet dieselbe Abkürzung (viel eleganter als das englische PTSD und deutsche PTBS als Abkürzung der posttraumatischen Belastungsstörung) und den deutschen Bedeutungsgehalt des Begriffs "Evidenz" haben wir für medizinische Zwecke kurzerhand geändert und dem englischen "Evidence" angepasst, das ja mit "Beweis" (das wäre "proof") auch nur unzutreffend übersetzt ist. Wahrscheinlich wird in ähnlicher Weise auch der sächsische Genitiv, der medial ubiquitär präsent und offensichtlich auf dem unaufhaltsamen Vormarsch ist, irgendwann einmal gleichermaßen eingedeutscht.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

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