Psychiatr Prax 2009; 36(7): 353
DOI: 10.1055/s-0029-1242053
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Media Screen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Bilder der Wirklichkeit

Further Information

Publication History

Publication Date:
01 October 2009 (online)

 

Karin Siegrist ist Medizinsoziologin. Nach langjähriger Tätigkeit in der kardiologischen Rehabilitation kam sie im Rahmen einer multizentrischen Längsschnittstudie zur Lebensqualität schizophren Erkrankter, deren soziale Situation und die Kosten der Erkrankung in Kontakt mit den Patientinnen und Patienten. Sie hört ihnen zu, unter Umständen auch stundenlang, und sie begegnet ihnen in größeren Abständen mehrere Male. Die Qualitätssicherungsfrau erzählt Geschichten. Die anfängliche Fremdheit weicht der Anteilnahme und vor allem dem Interesse an ihrem Blick auf die Wirklichkeit. Zwischen Geschichten in salopper Sprache tauchen "nackte Daten" auf, Erfahrungen aus unterschiedlichen Settings der Klinik, "Eindrücke" und Gedanken, Fotos - von Patienten wie der Autorin. Sie webt an ihrem Wandteppich und interessiert sich für die Variationen, in denen Wirklichkeit relativiert werden kann. Neben die nackte Datenordnung tritt eine erzählende Ordnung. Aus ihr geht auch hervor, wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit Stirnrunzeln auf die Geschichten reagieren, vor allem wenn sie in Referaten auftauchen.

Karin Siegrist ist es gelungen der Ordnung ihrer Interviewpartner und -partnerinnen zu folgen und deren Ordnung in ihrem Sosein aufzunehmen, obwohl sie selbst einer anderen Ordnung verpflichtet war. Erzählen, sagt Brigitte Kronauer, wird möglich, wenn man für sich selbst bereits eine Ordnung der Dinge gefunden hat.

Eingerahmt werden die Geschichten von zwei Interviews - mit Ulrich Trenckmann zu den Leitlinien der Schizophreniebehandlung und mit Wolfgang Gaebel zu Behandlungszielen von Schizophrenie. Die Bildbetrachtung gelingt auch ohne Rahmen. Möglicherweise eröffnet er Außenstehenden aber einen Zugang zum Thema.

Durch die Form der Darstellung, dieses scheinbar lockere Erzählen werden Erwartungen geweckt. Die psychiatrisch sozialisierte Leserin erhofft sich einen - lange vermissten - soziologischen Blick, eine Auseinandersetzung mit der Versorgungsforschungsperspektive einerseits und der Lebens- und Wirklichkeitsperspektive der Patientinnen und Patienten andererseits. Aber so ist der Text offensichtlich nicht gemeint. Sehr viele Aspekte der Begegnung mit Schizophreniekranken werden angetippt. Sie bleiben skizzenhaft, sie gehen, um im Bild zu bleiben, wie Sternschnuppen auf, die Wünsche wecken: den Wunsch nach einer Vertiefung, einer Fortsetzung von Goffmans Underlife oder Riemanns Fremdwerden der eigenen Biografie.

Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern

Email: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch

Siegrist K. Wahnsinn und Wahrnehmung. Zum Erleben von Schizophrenen. Hamburg: merus 2008: 141 S., Kart. 15,90 €, ISBN 978-3-939519-43-0

    >